Im Jahr 1989 hatte der russische Präsident Michail Gorbatschow ein Zeitfenster zur Wiedererlangung der deutschen Wiedervereinigung geöffnet. Walter Kohl hat es umgehend genutzt, wenige Zeit später wäre das Fenster wieder geschlossen worden. Zu Jahresbeginn 2025 hat der amerikanische Präsident Donald Trump ein Zeitfenster zur Errichtung einer gesamteuropäischen Sicherheits- und Friedensordnung geöffnet. Auch dieses Zeitfenster gilt es zu erkennen und zu nutzen.
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Mit dem Übergang der unipolaren zur multipolaren Weltordnung (BRICS) und der gleichzeitigen Ausrichtung der US-Aussenpolitik auf China als strategischem Rivalen hat sich Trump von der seit dem 2. Weltkrieg geltenden Brzeziński-Doktrin „D und RU dürfen niemals zusammenarbeiten“ de fakto verabschiedet. Auch JD Vance hat mehrfach sein Mißfallen gegenüber der engen Kooperation von China mit Russland kund getan. Trump hat kein Interesse an einer Fortsetzung des Ukrainekriegs, zumal er mit einem Deal (Ukraine neutral ohne Krim und Donbass) die Bodenschätze und das Getreide der Ostukraine für die USA sichern kann.
Das alte Europa wird zunehmend unwichtig für die USA, interessant sind nur einzelne Deals.
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Mit der Absage an Brzeziński ergibt sich für Europa und besonders für Deutschland plötzlich eine große Chance: Die in den 1970er Jahren so erfolgreiche Entspannungspolitik von Willy Brandt kann endlich fortgeführt werden: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“, dessen diplomatische Bemühungen auf die Errichtung einer gesamteuropäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur von Portugal bis Russland gerichtet sein müssen. Nach dem Ende des Ukrainekriegs muß Frieden auf die Agenda. Hat sich nicht endlich gezeigt, daß Europa nicht zum Krieg taugt, sondern allein zum Frieden? In Russland wie Deutschland fehlen die jungen Männer (Youth Bulges) und nur 10 % von ihnen sind in Deutschland überhaupt bereit, das Land mit der Waffe zu verteidigen.
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Bei seiner Rede am 25.9.2001 im Deutschen Bundestag hatte Wladimir Putin die zu schaffende gesamteuropäische Friedensarchitektur angesprochen. Nun sind 24 Jahre nutzlos zerronnen und die Welt hat sich immer mehr vom Frieden entfernt.
EU-Europa muß reagieren und von Kriegs- auf Friedenspolitik umschalten. Aktive und kreative Diplomatie wird gebraucht und ein Adieu an all die „schlafwandlerischen politischen Eliten und Mainstreammedien“ (2), die in Berlin wie Brüssel dafür sorgen, daß es mit Europa als Spielball anderer weiter bergab geht: „Die politischen Entscheider … sind transatlantisch geprägt. Es könnte sich, wenn es um einen Wandel gehen soll, um eine Lost-Generation handeln, die nicht imstande ist. sich den neuen Realitäten anzupassen – es fehlt schlichtweg an geistiger Flexibilität“. Warum können sich diese politischen Entscheider mitsamt den ihr hoffährigen Mainstreammedien nicht durchringen, ein zivilgesellschaftliches Vorhaben wie das „European Peace Project“ zu unterstützen, obwohl es nicht von CDUSPDGrüne initiiert worden ist?
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In seinem Buch schreibt Hauke Ritz (siehe (2) unten), dass „Russland nur in den Westen integrierbar gewesen wäre, wenn die USA Europa in die Unabhängigkeit entlassen hätten“. Inzwischen hat Trump das geschafft.
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EU-Europa muß lernen, die eigenen Interessen zu formulieren und durchzusetzen – und diese müssen nicht unbedingt identisch sein mit den US-Interessen. Beispiel:
Es ist im Interesse der USA, wenn Deutschland massiv aufrüstet und ca 60 % der Waffen von Amerika einkauft. Und es ist andererseits im Interesse von Deutschland, wenn durch eine Verflechtung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland diese Aufrüstungsprogramme hinfällig werden.
30.3.2025
Dieser Beitrag ist auch erschienen auf
https://ansage.org/das-zeitfenster-fuer-europa-als-friedensmacht-ist-noch-offen/
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Ende von Beitrag „Zeitfenster zu Frieden in Europa“
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Beginn von Anlagen (1) – (2)
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(1) Weltgeschichte im Zeitraffer: Wo bleibt EU-Europa? – Sechs Szenarien
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Der Aspekt des Krieges in und um die Ukraine und seiner Beendigung unter welchen Bedingungen spielt auch für die künftige Entwicklung EU-Europas – angesichts des Stellvertretercharakters des Krieges – und somit auch für Europa eine zentrale Rolle. Im Folgenden sollen einige Szenarien holzschnittartig dargestellt werden. Diese Szenarien sind weder erschöpfend noch zwingend, zeigt die Geschichte doch immer wieder, wie komplex, wie viele Graustufen es zwischen schwarz und weiß gibt.
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5. Szenario – Ende der europäischen Integration: EU-Europa unterstützt die Ukraine weiterhin massiv. Dennoch verliert die Ukraine den Krieg (siehe Szenario 3 – Niederlage der Ukraine). Obschon EU-Europa sehr viel in die Unterstützung der Ukraine als auch in die eigene Militarisierung investiert hat, wird weltweit, aber auch innerhalb der EU deutlich, das EU-Europa kein ernstzunehmender Sicherheitsgarant ist. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwindet. Die ersten EU-Mitgliedsstaaten orientieren sich zunächst verdeckt, dann immer offener auf die Trump-Administration, in der Hoffnung auf einen bilateralen US-Schutzschirm.
Es beginnt ein Wettlauf europäischer Staaten um die Gunst der USA. Die EU wird zwar nicht offiziell aufgelöst, aber EU-Brüssel verliert zunehmend an Handlungskompetenzen, da die Mitgliedsstaaten ihr Heil in der eigenen Souveränität suchen. Diese Entwicklung wird dann als Rückkehr zum Leitbild des „Europas der Vaterländer“ der Öffentlichkeit verkauft, tatsächlich jedoch wird die europäische Integration in erheblichem Maße rückabgewickelt. Die NATO selbst spielt für die USA keine wesentliche Rolle mehr – Artikel 5 des NATO-Statuts verkommt zur Lyrik. Die NATO wird zwar ebenfalls nicht offiziell aufgelöst, verabschiedet sich aber in die Passivität.
Einige, insbesondere osteuropäische Staaten setzen auf Annäherung und Ausgleich mit Russland in der Hoffnung, dass dies angesichts der neuen Realitäten ihrer eigenen Sicherheit zuträglicher als ein Konfrontationskurs ist. EU-Europa als Gestaltungsakteur findet nicht statt. Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten bewegen sich in ihrer politischen Souveränität in dem Spektrum zwischen Mittelmacht (Deutschland, Frankreich, Polen und Italien) und wenig relevanten Staaten auf der internationalen Bühne.
Wahrscheinlichkeit: Dieses Szenario erachte ich als nicht unwahrscheinlich. Eine Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit wie im 19. Jahrhundert wird es zwar nicht werden, aber EU-Brüssel wird politisch-operativ weitgehend irrelevant werden. Einige EU-Staaten werden untereinander bi-, tri- oder multilateral ggf. unter Rückgriff auf EU-Strukturen enger miteinander kooperieren, andere eher nicht. Die jeweilige neue nationalstaatliche Ausrichtung einiger EU-Mitgliedsstaaten (beispielsweise Ungarn, die Slowakei, aber auch Polen, Rumänien und Bulgarien) auf die USA und Russland stellt eine Flucht in die neuen internationalen Realitäten dar.
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Fazit:
Die dargestellten sechs Szenarien sind, wie bereits ausgeführt, weder absolut so zu sehen noch alternativlos, da die Wirklichkeit viel komplexer ist, als dass sie durch Szenarien adäquat erfasst werden könnte. Die Szenarien sind jedoch Ausdruck möglicher Entwicklungen auf der Grundlage der gegenwärtigen, von mir erfassten Faktenlage. Und die Faktenlage sieht zumindest für EU-Europa, was die Anpassungsfähigkeit an die realpolitischen Entwicklungen betrifft, nicht wirklich gut aus.
EU-Europa droht, sofern es seinen Binnenzerfall noch abzuwenden vermag, nur noch in der zweiten weltpolitischen Liga zu spielen. Das heißt auch, dass die Großmächte der ersten Liga die neuen Spielregeln der künftigen Weltordnung im Wesentlichen bestimmen werden. Der alte Kontinent, über Jahrhunderte das Zentrum der Weltpolitik, würde in die Peripherie rutschen.
… Alles vom 31.3.2025 von Alexander Neu bitte lesen auf
https://www.nachdenkseiten.de/?p=130968
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(2) Vom Niedergang des Westens zur Feindschaft mit Russland
Deutschland besaß zur Zeit des Mauerfalls kein öffentliches Bewusstsein von der Gestaltbarkeit der Welt. Ganz anders die USA, deren Hegemonie seither ausgebaut wurde und hierzulande als naturgegeben akzeptiert wird. Europäische Werte wie Diplomatie und Verständigung, die aus der eigenen kriegerischen Geschichte erwuchsen, gerieten unter die Räder. Hauke Ritz zeichnet in seinem aktuellen Buch den Niedergang des Westens – mit Deutschland an zentraler Stelle – nach. Er spricht von einem „kolonialisierten Bewusstsein der Europäer“ und einer „fast kindlichen Unreife“ der US-Außenpolitik. Multipolar veröffentlicht Auszüge.
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Russland war zwar in den 1990er-, 2000er- und 2010er Jahren bereit, eine Allianz mit dem Westen einzugehen. Und die Angebote Moskaus, Russland könne selbst der NATO beitreten (7) und immer engere wirtschaftliche Verflechtungen mit der EU eingehen, ja sogar akzeptieren, dass „irgendwann in der Zukunft Brüssel unsere gemeinsame Hauptstadt ist“, (8) waren durchaus ernst gemeint.
Doch war von Anfang an klar, dass mit dem Eintritt Russlands sich die westliche Welt selbst hätte fundamental ändern müssen. Mit dem russischen Staat hätte ein Akteur am Tisch Platz genommen, der die Prozesse der kulturellen Transformation nicht wie die Politiker Deutschlands, Italiens und Frankreichs als natürliche Prozesse hinnahm und akzeptierte, sondern jemand, der sie aus eigener machtpolitischer Erfahrung kannte und entsprechend auch zur Diskussion gestellt hätte. Russland wäre deshalb nur in den Westen integrierbar gewesen, wenn die bis dahin verdeckt ausgeübte kulturpolitische Macht der USA zu einem gemeinsamen politischen Inhalt der gesamten Allianz geworden wäre, was wiederum Diskussionsprozesse angestoßen hätte, die zu einer veränderten Bewertung und damit auch Politik hätten führen müssen.
Dies wiederum bedeutet, dass Russland nur in den Westen integrierbar gewesen wäre, wenn die USA Europa in die Unabhängigkeit entlassen hätten. Damit aber wären die USA nicht länger das administrative Zentrum des Westens gewesen. In gewisser Weise hätte dies die Auflösung beziehungsweise Neuschöpfung des Westens bedeutet. Statt einer unipolaren Struktur, deren Zentrum in den USA lag, wäre eine tripolare Struktur mit drei Zentren entstanden, deren Mitte allerdings Europa gebildet hätte. Mit diesem neuen Europa hätten sich sowohl Russland als auch die USA nur auf dem Weg einer partnerschaftlichen Beziehung verbinden können. Der Westen hätte sich in den größeren europäischen Kulturraum transformieren müssen, um Russland zu integrieren. In diesem größeren europäischen Kulturraum, der dann wirklich von Vancouver bis Wladiwostok gereicht und aus drei unabhängigen Zentren bestanden hätte, hätten die USA dann gleichberechtigte Beziehungen zur EU und zu Russland pflegen müssen.
Bis zum 24. Februar 2022 war Russland ein Land gewesen, das sich der europäischen Kultur tief verbunden gefühlt hatte, in gewisser Weise einen europäischen Traum besaß und das Wohlergehen Europas wünschte, ja zu ihm beitragen wollte. Diesen Freund verstoßen und möglicherweise dauerhaft verloren zu haben, indem man wie einst die oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg die Abtrennung der Ukraine von Russland plante, ist die vielleicht dramatischste Fehlentscheidung Europas in seiner gesamten Geschichte.
Wie weit Russland jetzt durch seine Integration in das neue Bündnissystem der BRICS-Staaten sich von Europa entfernen wird, bleibt abzuwarten. Der in den letzten 300 Jahren vorherrschende ausschließliche Bezug Russlands auf Europa wird sich aber wohl so schnell nicht wieder herstellen. Allerdings lassen sich kulturelle Prägungen nur über Generationen und nicht kurzfristig verändern, weshalb die Möglichkeit einer erneuten, auf der gemeinsamen Kultur begründeten Allianz der Staaten der EU mit Russland immer noch denkbar ist.
… Alles vom 27.3.2025 von Hauke Ritz bitte lesen auf
https://multipolar-magazin.de/artikel/niedergang-des-westens
Hauke Ritz:
Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas
Promedia, 272 S. 23 Euro
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Über den Autor: Hauke Ritz, Jahrgang 1975, studierte allgemeine und vergleichende Literatur- sowie Religions- und Kulturwissenschaften an der FU und HU Berlin. Er unterrichtete unter anderem an der Universität Gießen und der Lomonossow-Universität Moskau. Gemeinsam mit Ulrike Guérot veröffentlichte er 2022 das Buch „Endspiel Europa“.