Im kontinuierlichen Auf und Ab der Geschichte tun sich immer wieder unerwartet Zeitfenster auf. die – falls sie genutzt werden – eine abrupte Veränderung ermöglichen. So erreichten nach dem Mauerfall am 9.11.1989 Helmut Kohl und Michail Gorbatschow bei ihrem Treffen im Juli 1990 im Kaukasus die rasche Wiedervereinigung.
Das nächste Zeitfenster öffnete sich mit der Rede von Wladimir Putin am 25.9.2001 im Deutschen Bundestag, in der er Deutschland einen Bund souveräner Staaten von Lissabon bis zum Ural einschließlich einer europäischen Sicherheitsarchitektur vorschlug. Die Abgeordneten pflichteten mit Standing Ovations bei, um kurz danach auf Geheiß aus Washington abzulehnen, d.h. das Zeitfenster ungenutzt zu schließen.
Mit dem Niedergang Deutschlands und der Ablösung der unipolaren Weltordnung (mit USA als Hegemon) durch eine multipolare Ordnung (BRICS, SCO) ist zu erwarten, daß sich ein neues Zeitfenster auftun wird: Europa mit Russland als Partner.
Die Zeiten von Deutschland als Exportweltmeister und als „Wir sind so ein reiches Land“ sind vorbei. Mit dem von Rotgrün forcierten Niedergang von Industrie (Auto, Chemie, Maschinenbau brechen ein) sowie Sozialsystem (schuldenfinanziertes Bürgergeld für 5,6 Mio Arbeitslose, davon 2,9 Mio Deutsche und 2,7 Mio bzw. 48% Migranten) verliert Deutschland an Bedeutung.
Damit wird der seit 75 Jahren anhaltende Widerstand der USA gegen eine wirtschaftliche Partnerschaft mit Russland schwinden, zudem sich mit dem Konflikt China – USA das Weltgeschehen vom alten Europa in den ostasiatischen Raum verlagert. Gleichzeitig wird eine Reform der EU mit dem Ausfall von Deutschland als Hauptfinancier immer dringlicher. Eine Reform, in der Russland – in welcher Form auch immer – einzubinden ist.
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Wenden wir uns dem deutsch-russischen Verhältnis zu.
Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, einer der großen und zudem linken Philosophen der EU, mischt sich gerne ins aktuelle politische Geschehen ein. So erklärte er: „Die sogenannte Verfassung Europas ist illegitim. Über den Text, der unter diesem Namen durchgehen sollte, wurde nie von den Völkern abgestimmt.“ Und die Coronamaßnahmen bezeichnete er als „Gesundheitsdiktatur“ (2). In seinem Beitrag „L’invenzione del nemico“ bzw. „Die Erfindung des Feindes“ vom 31.5.2024 erinnert Agamben an den nicht erst seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 bestehenden Entschluß von EU, NATO wie USA, „di fare della Russia il loro nemico mortale“ bzw. „Russlands zum Todfeind zu machen“. Aussagen wie „Russland ruinieren“ (Annalena Baerbock) bestätigen dies.
Worin ist diese Feindschaft gegenüber Russland begründet? Agamben geht nicht auf den ersten NATO-Generalsekretär Lord Hastings Lionel Ismay ein, der 1949 sagte, Zweck der NATO ist „die Amerikaner drin zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unten.“ Agamben sieht die Gründe vielmehr darin, daß Europa einen äußeren Feind brauche, um vom inneren Niedergang abzulenken: Denn die eigene Identität ist verloren gegangen. „Europa hat alles aufgegeben, woran es glaubte – oder zumindest jahrhundertelang glaubte: seinen Gott, die Freiheit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gerechtigkeit.“ Der Nihilismus herrscht und damit der Verlust bzw. die Negierung jeglichen Glaubens. „Die Erfindung eines Feindes, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, ist in diesem Moment die einzige Möglichkeit, die wachsende Angst vor all dem, woran man nicht mehr glaubt, zu stillen.“
Traurig dabei ist, daß gerade Rußland als äußerer Feind auserkoren wurde, und nicht etwa die Chinesen (gelbe Gefahr), die Evangelikalen, die Islamisten oder wer auch immer. Traurig ist auch, daß Deutschland sich der Kunst der Diplomatie entsagt hat und zudem keine Staatsmänner mehr hat vom Format eines Willy Brandt, der die eigenen deutschen Interessen als „Volk der guten Nachbarn“ vertritt im Sinne der Entspannungspolitik – mit den Waffen der Diplomatie und nicht der Drohnen.
Eine Schlußanmerkung:
Natürlich ist dieser Artikel spekulativ – wie jeder Blick in die Zukunft. Dieser Artikel wurde aber nicht geschrieben, um irgendeinen Staat bzw. irgendeine Macht noch mächtiger werden zu lassen im Sinne von „Make America great again“ oder „Russia first“ oder „China first“. Sondern aus dem Verlangen heraus nach Frieden für alle und nach Freiheit für den Einzelnen.
Der Autor ist weder Putin-Troll noch USA-Hater oder BRICS-Fan, sondern Anhänger der Friedensbewegung, die in Deutschland am Boden liegt und angesichts des inneren wie äußeren Unfriedens endlich aktiv werden muß.
16.10.2024
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Ende von Beitrag „Zeitfenster: Europa Sicherheit“
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Beginn von Anlagen (1) – (3)
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(1) Giorgio Agamben zu Russland: Die Erfindung des Feindes
Europa braucht seinen Feind, wenn es alles aufgegeben hat, an was es einmal glaubte. Russland dafür zu wählen, ist nicht besonders kreativ.
Ich glaube, viele haben sich gefragt, warum der Westen und insbesondere die europäischen Länder durch eine radikale Änderung der Politik, die sie in den letzten Jahrzehnten verfolgt hatten, plötzlich beschlossen haben, Russland zu ihrem Todfeind zu machen. Eine Antwort ist durchaus möglich. Die Geschichte zeigt, dass, wenn die Prinzipien, die die eigene Identität sichern, aus irgendeinem Grund versagen, die Erfindung eines Feindes das Mittel ist, das eine – wenn auch prekäre und letztlich ruinöse – Auseinandersetzung mit ihm ermöglicht. Genau das geschieht jetzt vor unseren Augen.
Es ist klar, dass Europa alles aufgegeben hat, woran es glaubte – oder zumindest jahrhundertelang glaubte: seinen Gott, die Freiheit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gerechtigkeit. Wenn die Religion, mit der sich Europa identifizierte, nicht einmal mehr von den Priestern geglaubt wird, hat auch die Politik längst ihre Fähigkeit verloren, das Leben der Menschen und der Völker zu lenken. Wirtschaft und Wissenschaft, die an ihre Stelle getreten sind, sind in keiner Weise in der Lage, eine Identität zu garantieren, die nicht die Form eines Algorithmus annimmt. Die Erfindung eines Feindes, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, ist in diesem Moment die einzige Möglichkeit, die wachsende Angst vor all dem, woran man nicht mehr glaubt, zu stillen .Und es zeugt gewiss nicht von Phantasie, als Feind denjenigen zu wählen, der es vierzig Jahre lang, von der Gründung der NATO (1949) bis zum Fall der Berliner Mauer (1989), ermöglichte, den so genannten Kalten Krieg, der zumindest in Europa endgültig verschwunden zu sein schien, über den gesamten Planeten zu führen.
Gegen diejenigen, die stur versuchen, auf diese Weise etwas zu finden, woran sie glauben können, muss man sich daran erinnern, dass der Nihilismus – der Verlust jeglichen Glaubens – der beunruhigendste aller Gäste ist, der nicht nur nicht mit Lügen gebändigt werden kann, sondern nur zur Zerstörung derjenigen führen kann, die ihn in ihr Haus aufgenommen haben.
… Alles vom 11.6.2024 von Giorgio Agamben bitte lesen auf
https://tkp.at/2024/06/11/die-erfindung-des-feindes/
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Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er war der einzige lebende Weltphilosoph, der von Februar 2020 gegen das Covid-Regime angeschrieben hatte. Deshalb wurde er auch weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs gecancelt. Der Text Teatro e politica erschien am 31. Mai 2024 am Blog von Agamben auf Italienisch.
31.3.2024,
https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-l-u2019invenzione-del-nemico
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(2) Wir hätten da noch Fragen
Bis eben wurde Giorgio Agamben in linken Kreisen als Meisterdenker verehrt. Doch das war offenbar ein Missverständnis.
Darf man das? Darf man einen weithin bekannten Philosophen fragen, was falsch an der Idee sei, dass Staaten ihre Bürger in der Pandemie vor Krankheit und Tod schützen wollen? Darf man ihn fragen, warum er behauptet, dass die Regierungen Europas mit ihren Corona-Maßnahmen die „Schwelle zur Barbarei“ überschritten hätten? Darf man sich danach erkundigen, warum ebendieser Philosoph glaubt, dass auch nach der Pandemie unvermindert der „Ausnahmezustand“ herrschen werde?
… Alles vom 10.2.2022 bitte lesen auf
https://www.zeit.de/2022/07/giorgio-agamben-philosoph-corona-kritik
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(3) Der Westen braucht ein neues Selbstbewusstsein
Die These Fukuyamas, man habe mit dem Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ erreicht, hat sich als unwahr erwiesen. Doch der Westen hat noch kein Bewusstsein dafür entwickelt, wie er in „neuen“ historischen Zeiten bestehen kann.
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… Nahostkonflikt: In Dekadenz gefangene Angehörige des westlichen Kulturraums, namentlich vor allem linke Akademiker und Eliten, betreiben Hetze gegen Israel, als ob die Selbstverteidigung einer multireligiösen, multiethnischen Demokratie, die eine ungeheure kulturelle Diversität auf einem Gebiet von der Größe Hessens zusammenhalten muss, in irgendeiner Weise ethisch weniger verantwortbar sei als die Indoktrination schon jüngster Kinder mit tödlichem Hass auf Juden – eine Indoktrination übrigens, die besagt, dass Selbstzerstörung zur Umsetzung dieses Hasses eine Tugend sei. Israel und die Juden stehen hier auch längst nicht mehr nur für ein schon im Koran festgeschriebenes Feindbild, sondern sind ein Sinnbild des Westens geworden – instinktiv haben die Islamisten hier wohl eher unbewusst genau jene Religion zum Feind erkoren, ohne die das Abendland letztlich undenkbar ist, da aus ihr das Christentum hervorgegangen ist.
Ein eindrückliches Beispiel für die postmoderne Unfähigkeit und den Unwillen im Westen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und Prioritäten anhand dieser Unterscheidung zu setzen. Nebenbei: Es gehört zu den effektivsten Märchen der Postmoderne, dass diese Unterscheidung per se eindimensional, simplizistisch und „Schwarz-weiß-Denken“ sei. Das Abendland hat einen unüberschaubaren Reichtum an Denkern und Werken, die sich diesem Problem mit größter Differenziertheit widmen.
… Alles vom 5.10.2024 von Anna Diou bitte lesen auf
https://www.tichyseinblick.de/meinungen/der-westen-braucht-ein-neues-selbstbewusstsein/