Vergangenheit vergeht nicht

Geschichte läßt sich nicht ausradieren, auch nicht durch Gemeinderatsbeschluß, auch nicht durch Psychotechniken wie Vergangenheitsbewältigung oder Erinnerungskultur, die der „Damnatio Memoriae“ dienen: Einen in Ungnade Gefallenen durch Tilgung seines Namens löschen und verfluchen (damnieren). Was die alten Römer praktizierten, erproben nun die Freiburger. Aus 1300 Strassennamen sollen 12 umbenannt (der Philosoph Martin Heidegger, der Mediziner Ludwig Aschoff) und 15 mit Infotafeln versehen werden (Dichter Heinrich Fichte, Naturforscher Carl von Linne).
Ach wie gute Menschen wären wir, ach wie moralisch feine und edle Wesen wären wir, wenn es diese Strassen (der Kategorie A) nicht mehr gäbe: Alban-Stolz-Straße, Eckerstraße, Gallwitzstraße, Hegarstraße, Hindenburgstraße, Julius-Brecht-Straße, Lexerstraße, Ludwig-Aschoff-Platz, Ludwig-Heilmeyer-Weg, Martin-Heidegger-Weg, Rennerstraße und Sepp-Allgeier-Straße.
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Folgende Namen werden mit aufklärenden Hinweistafeln versehen (Kategorie B):
Arndtstraße, Conrad-Gröber-Straße, Fichtestraße. Freytagstraße, Hansjakobstraße, Hermann-Mitsch-Straße, Jahnstraße, Körnerstraße, Linnéstraße, Richard-Strauss-Straße, Richard-Wagner-Straße, Seitzstraße, Staudinger-Straße, Weismannstraße und Zasiusstraße.
Die Fichtestraße soll mit dem Schildchen ergänzt werden: „Nationalistischer Philosoph und erklärter Gegner Frankreichs“. Dabei gibt es zu Fichte weitaus wichtigeres zu sagen, als dass er Nationalist war. Zwar entspricht  seine Feindschaft gegenüber der französischen Besatzungsmacht 1807 nicht dem Geist aktueller Völkerverständigung von 2016, aber vielleicht dem damaligen Zeitgeist? Und was entspricht unserer heutigen von verschiedenen Seiten verordneten Feindschaft zu Putin-Rußland, Assad-Syrien, Erdogan-Türkei, Letanjahu-Israel und Abbas-Palästina?
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Auch die Freiburger sollten sich in Demut üben, denn sie sind nicht moralisch besser als ihre Vorfahren. Mit dem Entfernen von Strassennamen schürt der Freiburger Gemeinderat die gemütliche, aber gefährliche Illusion der eigenen moralischen Überlegenheit. Der Aschoffplatz soll Aschoffplatz bleiben, denn nur in der Auseinandersetzung mit der Geschichte lässt der eigene moralische Anspruch relativieren. Eine Stadt, die ihre Historie im Stadtbild tilgt, musealisiert sich.
16.10.2016
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Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur – Sinnlose Psychotechniken
…. Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen. Allenfalls lässt sie sich zurechtstutzen, etwa zum pädagogischen Gebrauch. Denn um aus der Geschichte zu lernen, muss man sie moralisch beurteilen. Moralische Urteile aber sind nicht zeitlos, sondern Produkte ihrer jeweiligen Gegenwart. Ergebnis: Geschichtsbetrachtung in pädagogischer Absicht verkommt zu Enthistorisierung – also zum genauen Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt war. Hier liegt die Krux.
Ähnlich verhält es sich mit der „Erinnerungskultur“. Denn eine Erinnerung, die zur Kultur wird oder zum Kult, ist das Gegenteil von abwägender historischer Versicherung. Es ist die Instrumentalisierung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart. Aus diesem Grund kennt die offizielle Erinnerungskultur nicht nur Gedenktage und Mahnmale, sondern auch das gezielte Vergessen. …
Alles vom 16.10.2016 von Alexander Grau bitte lesen auf
https://cicero.de/salon/Erinnerungskultur-geschichte-kann-man-nicht-ausradieren
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Der heutige Zeitgeist richtet überheblich über den damaligen Zeitgeist
„Geschichte kann man nicht ausradieren“ – Stimmt! Es zeugt wirklich von großer Arroganz bzw. mangelnder Demut, wenn heutige Menschen ihre Urteile über Persönlichkeiten der Geschichte als maßgeblich erachten. Was gibt ihnen die Gewißheit, ihren eigenen Standpunkt als richtig u. endgültig anzusehen? Daß sie in Wahrheit sehr beschränkt sind, läßt sich schon aus der Tatsache erschließen, daß sie die Auswirkungen des Zeitgeistes, in dem die berühmten Namensträger lebten, zu wenig in ihre Betrachtungen einbeziehen. Außerdem konnten die Menschen, die vor uns lebten, nicht die Erfahrungen machen, über welche wir Heutigen verfügen. Die unsensible, moralisch überhebliche deutsche Attitüde, mit der Erinnerung an Menschen umzugehen, findet man in anderen europäischen Staaten kaum. Dort stehen die Denkmäler unterschiedlichster Politiker, Künstler und Philosophen nebeneinander und zeugen von den sehr verschiedenen Zeiten u. Denkungsarten, die es im Laufe der Geschichte der Länder gegeben hat. Niemand stört sich daran, und das ist gut so.
16.10.2016, Christa Wallau, CO
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Erinnerungs-„Kultur“?
Man sollte Geschichte Geschichte sein lassen. Es war einmal. Dieses dauernde Herausarbeiten von Folgelasten aus der Geschichte hilft nur Einzelinteressen. Mit Kultur hat das nichts zu tun. Da wollen nur einige unser Gewissen spielen!
16.10.2016, Gerdi Franke, CO

Freiburg ist die erste deutsche Stadt …
2012 gab die Stadt Freiburg die wissenschaftliche Überprüfung der 1300 Straßennamen in Auftrag. Damit ist Freiburg die erste deutsche Stadt, die eine derartige, vollumfängliche Untersuchung aller Straßennamen initiiert hat. Die Ergebnisse wurden heute Vormittag vorgestellt. Der Kommission unter Vorsitz des emeritierten Freiburger Geschichtsprofessors Bernd Martin gehörten sieben Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, im Kern Historiker, sowie Archivare an. Die Kommission tagte insgesamt 18 Mal, ihr zugearbeitet und Fakten recherchiert hat der Historiker Volker Ilgen. … Alles vom 6.10.2016 bitte lesen auf
https://www.badische-zeitung.de/freiburg/zwoelf-freiburger-strassen-sollen-umbenannt-werden–128297680.html
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Gemeinderat: Strassennamen und Wohnungsnot
Wie viel zusätzliche preisgünstige Wohnungen sind nach dieser Aktion entstanden? Keine? Ah ja, dann war das jetzt wirklich ein wichtiges Problem, mit dem man sich 4 Jahre beschäftigt hat.
6.10.2016, Martin Synowzyk
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Kriegstreiber und -baumeister Vauban
Den dicksten Hund haben wir noch gar nicht ins Blickfeld gerückt: Da wird ein ganzes Stadtviertel nach einem französischen Festungsbaumeister benannt! Einer, der selbst in Freiburg (auf dem Schloßberg) sein kriegerisches Unwesen getrieben hat und uns mit Neuf Brisach eine Festung genau vor die Nase gesetzt hat. Vauban geht also gar nicht…
6.10.2016, Werner Ketterer, BO
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Antisemitismus in den Köpfen bekämpfen, nicht auf Strassenschildern
Man sollte in unseren Zeiten besser versuchen, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus in den Köpfen zu bekämpfen, anstatt an Straßenschildern. Wir sollten mit der Bilderstürmerei aufhören und uns von dem Gedanken verabschieden, unsere Geschichte reinwaschen zu können. Zumal Hindenburg und Heidegger unbestritten ihre Schattenseiten hatten, aber letzterer nunmal untrennbar mit der Stadtgeschichte verbunden ist und ersterer nun wirklich eher eine tragische Figur als ein Täter oder Hetzer war.
6.10.2016, Matthias Löffler
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Freiburgs Sessel-Puritaner diskreditieren und löschen
Nun sind sie also wieder tätig, die Puritaner, die schwarze Flecken auf den Westen unserer Vorfahren suchen. Es ist ja so leicht, aus den bequemen Sesseln einer funktionierenden Demokratie heraus Positionen und Verhalten von Personen und Verantwortungsträgern in früheren Zeiten oder innerhalb eines diktatorischen Systems zu diskreditieren und durch Tilgung ihres Namens aus der Erinnerung zu löschen. Historiker haben die wissenschaftliche Pflicht, sich bei der Beurteilung von Menschen und ihrer Handlungen in deren Zeit zurückzuversetzen und Schlüsse zu ziehen. Dieser Pflicht hat sich die Kommission entzogen. Um nur zwei der Namen aufzugreifen: Hindenburg war eine Legende für das deutsche Volk; er weigerte sich lange, dem „böhmischen Gefreiten“ ein Staatsamt zu übertragen. Erst nach dem folgenschweren Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl gab der senile alte Herr dem Volkswillen (?) und den Einflüsterungen seiner Entourage nach und ernannte Hitler zum Reichskanzler.
Hansjakobs Verhältnis zu den Juden war sehr differenziert. Er schildert in seinen Büchern neben seinen jüdischen Nachbarn und Freunden eben auch solche, die es in jeder Gesellschaft gibt: hier die sogenannten „Viehjuden“, die, wie mir alte Bauern schilderten, verschuldete Landwirte ausbeuteten und statt Zins eine Kuh aus dem Stall holten.
Wann wird die Lutherkirche umbenannt? Luther, bekennender Antisemit, nahm in seinen Schriften auch kein Blatt vor den Mund. Aber: Wer ohne Fehl ist, werfe den ersten Stein! Hat die Stadt nichts Besseres zu tun, als befleckten Westen hinterherzulaufen und Hunderten von Mitbürgern Straßennamensänderungen mit allen Konsequenzen von Adressen, Briefköpfen und vielem anderen aufzuzwingen?
17.10.2016, Heinz-Dieter Joos, Gundelfingen

Warum wurde der Antisemit Martin Luther vergessen?
Weshalb nehmen sich unsere Straßennamenbereiniger nicht gleich Martin Luther vor? Da gäbe es doch einiges an Kirchen, Straßen und Plätzen umzubenennen. Denn auch bei ihm liegen, um mit Rektor Schiewer zu sprechen, „große Leistungen und Verfehlungen“ in einer Person. Bei aller Hochachtung und bei allem Dank, die wir Luther schulden: In puncto Antisemitismus hat er wohl mehr auf dem Kerbholz als Stolz, Staudinger und Hansjakob zusammen. Und, liebe Schilderstürmer: „Aus den Augen, aus dem Sinn“, heißt ein altes Sprichwort. Wenn Ihr alle Siegesdenkmäler und Hindenburg-Straßen erledigt habt, wird dann nicht der damit verbundene, oft unselige Zeitgeist aus dem kollektiven Wissen verschwinden? Oder, um nochmal einen Gedanken Rektor Schiewers aufzugreifen: Wer setzt sich dann noch damit auseinander? Gute Texte zur Erläuterung der Namen, wie sie ja heute schon vielfach üblich sind, könnte ich mir sogar als ein den Geschichtsunterricht bereicherndes Element vorstellen.
Unbedingte Ausnahme: Namen und Symbole des Nationalsozialismus müssen der Forschung, den Geschichtsbüchern und der weiteren ernsthaften Diskussion in den Medien vorbehalten bleiben.
17.10.2016, Karl Kopp, Freiburg

Kirchen sprechen sich gegen Umbenennung von Straßen aus
Die evangelische und katholische Kirche kritisieren die Umbenennung der Straßennamen. Doch die Erzdiözese sieht das anders. … „Es gibt keinen moralisch perfekten Menschen. Wenn wir über Menschen urteilen, stellen wir uns über sie“ – so der evangelische Stadtdekan Markus Engelhardt. …. Alles vom 20.10.2016 auf https://www.badische-zeitung.de/freiburg/kirchen-sprechen-sich-gegen-umbenennung-von-strassen-aus-erzdioezese-sieht-das-anders–128784631.html
Über 70 Jahre kein Krieg – trotz Hindenburgstrasse
Von dem Vorgehen gegen den Namen Hindenburg hat man den Eindruck, dass hier Dreck unter den Teppich gekehrt wird. Für uns sollte der Name ein Mahnmal sein, dass sowas nicht mehr vorkommt. Seien wir doch froh, dass wir heute leben. Über 70 Jahre kein Krieg und ebenso lange die Hindenburgstraße. Alles, was sich gestern, letztes Jahr, vor 10, 20 oder 40 Jahren ereignet hat, gehört doch der Vergangenheit an und ist für sich abgeschlossen. Es ist zwecklos, Vergangenes immer wieder aufzuwärmen. Wer in der Vergangenheit lebt, ist für die Zukunft verloren. Hindenburg war, wenn wir einmal die Reihe der Reichs- und Bundespräsidenten seit 1919 durchgehen, der einzige Präsident, der vom deutschen Volk in freier und geheimer Wahl gewählt wurde. Er war ein wirklicher Präsident des Volkes und unserer Vorfahren und treibt einen Keil in die Bevölkerung. Zwischen Baden-Baden und Freiburg haben circa 20 Orte seit über 70 Jahren eine Hindenburgstraße. Wer hat nach so langer Zeit die Idee, eine Änderung zu fordern. Will sich jemand profilieren? Es ist gut, dass der Name bleibt, damit man nicht vergisst, wie gut es uns heute geht. In der Gemeindeordnung steht, dass die Stadtobrigkeit und die Damen und Herren im Gemeinderat zum Wohle der Stadt und deren Bürger entscheiden sollten! Deshalb beenden Sie das Theater, denn es gibt nur böses Blut unter den Bürgern und das ist das Schlimmste, was einer Stadt passieren kann. Der französische Schriftsteller La Rochefoucauld (1618-1680): „Wir würden weit mehr gewinnen, wenn wir uns zeigten, wie wir sind, als bei dem Versuche, das zu scheinen, was wir nicht sind.“
19.10.2016, Kurt Albert Putler, Offenburg, BO

Fänawi – „Fähnchen nach dem Wind““ als Strassennamen
Bravo, endlich ist Freiburg nazifrei, rassistenfrei und so weiter. Als Namen für die betroffenen Straßen schlage ich vor: Fähnchen nach dem Wind, abgekürzt Fänawi, die zahlreichen Straßen könnten nummeriert werden. Man würde sich so die Suche nach neuen Namen ersparen, zumal es völlig „unbescholtene“ Menschen nicht gibt. Dass das Ganze wissenschaftlich „abgesegnet“ ist, lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Welches inquisitorische Verfahren ist als nächstes geplant?
19.10.2016, Albert Merz, Gundelfingen

Freiburg macht sich lächerlich
Geschichte verläuft zusammen mit Veränderungen in den Grundhaltungen zu Lebensfragen, getragen von Menschen in unterschiedlichen Ländern und Zeitperioden. Wir können sie erkennen und nach den Antriebskräften fragen, aber es ist völlig unangebracht, sie auf der Grundlage unseres derzeitigen Denkens zu bewerten. Kriegsführung, nationales Denken, eine Gesellschaftsstruktur mit einer Verteilung von Rechten und Pflichten gehörten zum Leben unserer Eltern und Großeltern fest dazu und sind auch heute noch an anderen Stellen der Welt gegenwärtig. Wir haben das große Glück, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Frieden und Freiheit zu leben und sollten dafür dankbar sein. Es ist aber überheblich, die viel schwierigeren und vielfältig belasteten Lebensläufe in früherer Zeit moralisch zu bewerten, und dies auch noch mit einem selektiven Blick. Alle Persönlichkeiten, nach denen eine Straße als Ehrung benannt ist, haben etwas bewirkt und hinterlassen. Durch Handlungen, welche heute als Verfehlungen angesehen werden, wird das zentrale Verdienst in den meisten Fällen nicht geschmälert. Das gilt, in der Sicht wohl aller Chemiker, für Staudinger, den Begründer der Polymerwissenschaften, trotz seiner widersprüchlichen Haltung in der Hitlerzeit, oder in internationaler Sicht genauso für Heidegger, den Begründer eines neuen Zugangs zu Grundfragen der Philosophie, trotz seiner anfänglichen Begeisterung für das Dritte Reich. Mit dem verurteilenden Blick auf Hindenburg trifft man auch die große Zahl von Deutschen, die ihn bis zu seinem Tod ehrten und vertrauten, wollen wir dies?
Mit der Charakterisierung Fichtes als „nationalistischer Philosoph und erklärter Gegner Frankreichs“ in der Zeit Napoleons macht sich Freiburg einfach nur lächerlich. Ich kann dem Stadtrat also nur raten, das Vorhaben „Straßenumbenennung“ nicht weiter zu verfolgen.
19.10.2016, Dr. Gert Strobl, Freiburg, BO

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Mediziner Ludwig Heilmeyer nach fast 100 Jahren entschuldbar?
In der Medizin ist es heute üblich, vor jeder öffentlichen Stellungnahme seine relevanten Interessenkonflikte offen zu legen: Ich bin Medizinprofessor im Ruhestand und habe 26 Jahre die Abteilung Rheumatologie und Klinische Immunologie am Freiburger Universitätsklinikum geleitet. Ich rechne mich zu den wertekonservativen, christlichen Linken (Mitglied der evangelischen Kirche und der SPD).
Persönlich kannte ich weder Ludwig Heilmeyer noch seine Familie. Aber als ich 1984 aus Hannover nach Freiburg kam, lernte ich viele seiner Schüler als ausgezeichnete Ärzte und zugewandte Menschen kennen. Heilmeyers Geist war noch präsent in der Klinik. In meinem Dienstzimmer sah ich in der Folgezeit viele Freiburger Patienten und Kollegen, die Heilmeyers Mobiliar wiedererkannten und durchweg mit positiven Erinnerungen darauf zu sprechen kamen. Ein Kollege schenkte mir ein Porträt Heilmeyers, ein anderer einen Sammelband von Publikationen, die Heilmeyers Schüler ihm zu seinem 60. Geburtstag gewidmet hatten.
Heilmeyers Vita als Wissenschaftler, Klinikdirektor und Arzt begann mich zu interessieren. Ich wusste um seine Systemnähe während der Nazizeit, erfuhr aber von Zeitzeugen auch viel Positives über ihn. Während einer Vortragsreise 1980 nach Krakau besuchte ich zusammen mit meinem Gastgeber W. Ptak eine Ausstellung zum 40. Jahrestag der Schließung der Krakauer Universität durch die Nazis. Dabei kamen auch die deutschen Leiter der Krakauer Universitätskliniken 1944 bis 1945 zur Sprache: Der Pädiater Ströder wurde von der polnischen Bevölkerung verehrt und erhielt 1979 die Ehrendoktorwürde der Universität. Der Internist Heilmeyer wurde geschätzt, seine Klinik war aber wegen Partisanenanschlägen nicht so sicher. Die Chirurgie wurde gemieden. Unsere Kinderfrau in Hannover war 1944/45 als junge Krankenschwester in der Krakauer Kinderklinik und bestätigte mir die Einschätzung meiner polnischen Kollegen. Die belastenden Aussagen über die Mitgliedschaft des 20-jährigen Heilmeyer, der gerade vom Ersten Weltkrieg zurückgekehrt war und sich dem deutschnationalen Frontsoldatenbund „Stahlhelm“ und dem Freikorps Epp anschloss, sind natürlich gravierend, aber sind sie nach fast 100 Jahren unentschuldbar? Zu seinen rassepolitischen Schulungen in der „Staatsschule für Führertum“ in Thüringen, die er um 1936 als Oberarzt der Universitätsklinik Jena durchführte, wäre es interessant zu wissen, wie oft und mit welchem Eifer er diese Aufgabe ausführte. Das wissenschaftliche Oeuvre Heilmeyers enthält meines Wissens keine Publikationen zu Rassethemen. Seine erste Publikation nach dem Krieg trug den Titel „Hungerschäden“ (Med. Klin. 1946 Jul; 41(13): 241-9) und signalisiert fraglos einen thematischen Neuanfang.
Mir liegt es fern, Heilmeyers Systemnähe klein zu reden, aber ich sehe auch die vielen großartigen jungen Ärzte und Wissenschaftler, die er ausgebildet hat. Stellvertretend seien hier genannt L. Weissbecker – aus dem KZ Buchenwald kommend wurde er Heilmeyers erster Assistenzarzt und später Ordinarius in Kiel – und Helmuth Schubothe, mein direkter Vorgänger, ein international hoch angesehener Immunhämatologe und überzeugter Antimilitarist. Angesichts der enormen Verdienste Heilmeyers um den Wiederaufbau des Freiburger Klinikums, seines Engagements für eine breite internistische Wissenschaft und eine gute Ausbildung einer ganzen Nachkriegsgeneration junger Ärzte frage ich mich bei der jetzigen Schild(a)er-Kampagne 71 Jahre nach Kriegsende: „Cui bono?“ (wem nützt das?). Etwa gar der AfD? Vielleicht sollten die Mitglieder und Auftraggeber der Historiker-Kommission auch ihre Interessenkonflikte offenlegen.
24.10.2016, Prof. Dr. med. Hans-Hartmut Peter, Freiburg

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