Genossenschaft Solar Wohnen

Genossenschaften gründen sich besonders dann, wenn Notlagen vorliegen. Das war vor 150 Jahre so, als die Idee dieser Unternehmensform aufkam, das ist heute so: Alte tun sich zusammen zu Seniorengenossenschaften, um dem Seniorenheim zu entfliehen. Bürger bilden Bürgerenergiegenossenschaften, um die höhen Energiepreisen abzufedern.

Der Freiburger Genossenschaftsexperte Burghard Flieger zeigt im Gespräch mit Heinz Siebold auf, was es mit Genossenschaftsidee auf sich hat.
Siebold: Klein oder groß, macht dieser Unterschied bei Genossenschaften etwas aus?
Flieger: Im Grundsatz sind sie nach den gleichen Prinzipien organisiert. Man muss immer unterscheiden zwischen der Rechtsform und der sozialen oder soziologischen Organisation. Letztere ist für die Wesensmerkmale entscheidend. Rein soziologisch könnte eine Organisation genossenschaftlich sein, ohne die genossenschaftliche Rechtsform zu haben.
Siebold: Was sind die genossenschaftlichen Grundprinzipien?
Flieger: Es sind vier. Erstens das Demokratieprinzip: Jedes Mitglied hat eine Stimme, unabhängig von der Höhe der Einlage. Zweitens: das Förderprinzip. Es besagt, dass nicht die Kapitalverwertung oder die Gewinnmaximierung im Vordergrund steht, sondern die Förderung der Mitglieder in dem wirtschaftlichen Bereich, in dem die Genossenschaft tätig ist. Drittens: das Identitätsprinzip. Es bedeutet, dass zwei Rollen gleichzeitig übernommen werden: Mitglieder der Wohnungsgenossenschaft sind zugleich Mieter und Vermieter.
Siebold: Und jetzt noch das vierte Prinzip …
Flieger: Das ist das Solidaritätsprinzip. Das wird manchmal als nicht so wichtig unterschätzt. In der Aufbauphase ist das meist deutlicher zu sehen, viele Aufgaben werden ehrenamtlich übernommen, das solidarische Engagement der Mitglieder ist ausgeprägter.
Siebold: Gegründet wurden die Genossenschaften im 19. Jahrhundert als Hilfsvereine, heute sind viele davon mächtige Organisationen. Kann man bei einem Marktverhalten, das sich am Wettbewerb orientiert, noch die hehren Prinzipien pflegen?
Flieger: Je größer die Genossenschaft ist, desto schwieriger wird es, zum Beispiel die demokratische Partizipation so zu organisieren, dass sie wirklich mitgliedernah ist. Aber viele bemühen sich. Die Konsumgenossenschaften zum Beispiel machen Ladenversammlungen, die Volksbank Freiburg hat Kundenbeiräte und Briefwahl eingeführt. Das sind Beispiele, die ausgebaut werden können.
Siebold: Wo liegt der Vorteil für das Mitglied einer Genossenschaft?
Flieger: Gute Frage. Man könnte es mal wieder mit der Rückvergütung probieren. So wie früher bei den Konsumgenossenschaften, das wurde dann durch das Rabattgesetz auf drei Prozent beschränkt. Mittlerweile ist diese Einschränkung wieder aufgehoben. Alle Genossenschaften, nicht nur die kleinen, müssen immer die Mitgliederbindung im Auge haben.
Siebold: Warum ist der Genossenschaftsgedanke nach 150 Jahren Geschichte immer noch so lebendig?
Flieger: Genossenschaften sind die Reaktion auf Notlagen, wenn sich Einzelpersonen oder Gruppen zusammenschließen. Darüber hinaus gibt es auch in normalen Zeiten das Bedürfnis nach Gemeinschaft als Alternative zur Vereinzelung. Heute schließen sich zum Beispiel Menschen zusammen, um das Thema Betreuung im Alter zu lösen. Es gibt neue Genossenschaften bei Ärzten, die Einkauf, EDV-Programme und Lobbyarbeit genossenschaftlich organisieren. Es gibt die gemeinsinnigen Genossenschaften, die Projekte verwirklichen wollen unter dem Stichwort „Gemeinsam leben und arbeiten“ als Alternative zur Vereinzelung. Es gibt die Bürgerenergiegenossenschaften, die für die Akzeptanz und den Erfolg der Energiewende vor Ort sehr viel tun.
Siebold: Braucht die Genossenschaftsbewegung neuen Schwung?
Flieger: Die Genossenschaften und ihre Verbände haben lange verpasst, mehr Aufklärungsarbeit zugunsten der genossenschaftlichen Ideale zu leisten und haben nur für die Wirtschaftlichkeit ihrer Betriebe und nicht für die Mitgliederförderung geworben. Seit der Energiegenossenschaftsgründungswelle, mittlerweile knapp 900 Neugründungen, und der Bankenkrise ist dies anders geworden. Die Verbände kommunizieren nun auch wieder, dass dies eine Wertegemeinschaft ist. Auch unterstützen sie verstärkt Neugründungen.
10.3.2014, Heinz Siebold
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Genossenschaftsexperte Burghard Flieger
Der promovierte Freiburger Volkswirt und Soziologe (Jahrgang 1952) beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Genossenschaft. Er hat viele Veröffentlichungen dazu geschrieben, ist Lehrbeauftragter an der Hochschule für Gemeinwesenökonomie in München. Zugleich ist er Vorstand der Genossenschaft Innova, die neue genossenschaftliche Projekte im sozialen Bereich berät und unterstützt. Er leitet in Freiburg die Sages-Genossenschaft Serviceagentur für Senioren und Familien.

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