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Colin Crough: Globalisierung rückgängig machen
„Jetzt endlich umsteuern!“
„Deglobalisierung“: Pandemie und Krieg – hat uns die neue Weltlage in eine Ära geführt, die die Globalisierung rückgängig macht? Der britische Soziologe Colin Crouch fordert, diese künftig sozial-ökologisch zu bremsen
Moritz Schwarz
Herr Professor Crouch, was ist die Deglobalisierung?
Colin Crouch: Die Frage ist berechtigt, denn tatsächlich gibt es ganz verschiedene Interpretationen des Begriffs. Ich würde sagen, gemeinhin versteht man darunter einen Rückzug vom bisherigen System des freien, ungehinderten Welthandels. Etwa betrachten einige afrikanische Nationen diesen für ihre Völker als doch recht nachteilig und halten es für besser, stärker auf Selbstversorgung zu setzen.
Nicht nur afrikanische Nationen.
Crouch: Genau. Zuerst aber würde ich anerkennen, daß die Ökonomen an sich damit recht haben, daß Freihandel allgemein zu mehr Wohlstand führt. Wir müßen uns allerdings im klaren sein, daß das nur dann gilt, wenn die daran Beteiligten auch untereinander konkurrenzfähig sind. Ist das nicht der Fall, geht der Freihandel zugunsten der Starken auf Kosten der Schwachen. Oder in unserem Kontext besser gesagt: auf Kosten der Billigsten, also jener, die die schlimmsten Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen haben.
Sie meinen, die Globalisierung ist quasi mit „kapitalistischer Schlagseite“ verlaufen?
Crouch: Das ist offensichtlich so. Und daher sehe ich den richtigen Weg nicht in einer Rückkehr zum Nationalstaat, sondern in einer teilweisen Deglobalisierung der bisherigen, vor allem kapitalistischen Globalisierung. Man hat geglaubt, daß Kapitalismus und Demokratie zwangsläufig Hand in Hand gehen. Doch das ist ein Irrtum – dem wir nachvollziehbarerweise deshalb aufsitzen, weil wir es nach 1945 in unserer Hemisphäre nur so erlebt haben. Doch gibt es Länder, die das Gegenteil beweisen. China etwa hat eine kapitalistische Volkswirtschaft – die aber einer kommunistischen Diktatur gehört. Ebenso, wenn Sie sich die Wirkung der westlichen Globalisierung in ärmeren Ländern ansehen, so besteht diese im wesentlichen aus einer Verbreitung des Kapitalismus dort, nicht aber demokratischer Werte und Rechte.
Was schlagen Sie vor?
Crouch: Zum Beispiel müßte die Welthandelsorganisation WTO, die bis heute nur daran interessiert ist, staatliche Subventionen und Schutzzölle zu verhindern, um möglichst freien Welthandel zu garantieren, künftig auch soziale Gesichtspunkte berücksichtigen. So können ihr derzeit selbst Länder beitreten, in denen noch Sklaverei existiert, Kinderarbeit legal ist oder die so gut wie keine Umweltschutzauflagen haben. Das darf nicht mehr möglich sein! In Zukunft sollten etwa die Regularien der IAO, der Internationalen Arbeitsorganisation der Uno, von der WTO zu Beitrittskriterien erhoben werden.
Aber würde das nicht einen erheblichen Wettbewerbsnachteil für viele arme Länder bedeuten?
Crouch: Das stimmt, die Globalisierung und auch Wachstum und Wohlstand in den Entwicklungsländern würden sich deutlich langsamer vollziehen. Dafür aber hätten die Menschen dort bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Jedoch räume ich ein, daß es für einiges wohl bereits zu spät ist. Denn so manche Entwicklung kann man nicht einfach wieder zurückdrehen. Doch hätte die WTO diesen Weg schon in den achtziger Jahren eingeschlagen, dann wäre die Welt heute zweifellos ein bessere. Um so wichtiger ist es, daß wir wenigstens jetzt endlich umsteuern! Damit wir nicht in weiteren vierzig Jahren auch auf unser Heute als eine Zeit der verpaßten Chancen zurückblicken.
Moment, Sie schildern Deglobalisierung als etwas zu Wünschendes. Aber meint der Begriff nicht einen Prozeß, der sich bereits vollzieht?
Crouch: Ich sagte ja, daß es verschiedene Interpretationen des Begriffs gibt. Eine weitere ist, darunter das teilweise Zusammenbrechen des globalen Netzwerks zu verstehen, das in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Etwa der Kollaps zahlreicher Lieferketten, weil diese sich als in Zeiten der Krise zu lang erwiesen haben. Was allerdings nicht überraschend ist, ging es bei ihrem Aufbau doch immer nur darum, an die günstigste Ware zu kommen. Während man sich über mögliche logistische Probleme oder gar soziale oder ökologische Implikationen keinerlei Gedanken machte. Doch natürlich treten früher oder später Krisen auf, etwa in Form der Corona-Pandemie oder auch kleinerer Ereignisse, wie des Unfalls des Containerschiffs „Ever Given“ 2021.
Das sechs Tage lang den Suezkanal und damit eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt blockierte.
Crouch: Eben. Oder aber der russische Angriffskrieg, der zur Kappung zahlreicher wirtschaftlicher Verbindungen geführt hat – sei es durch Produktionsausfälle in der Ukraine, durch die Blockade wichtiger Ausfuhren aus dem Land, wie Weizen, oder durch die Sanktionen, die wir gegen Rußland verhängt haben. Und in Zukunft könnte bei einer Eskalation in der Taiwanstraße auch noch der Zusammenbruch aller Verbindungen zu China hinzukommen – sowie der Verbindungen zu Taiwan, sollte dieses zu einem Kriegsschauplatz werden. Allerdings muß es nicht einmal zu einem tatsächlichen Zwischenfall kommen. Zum Beispiel könnte der Westen China auch einfach als zu mächtig betrachten und seine Verbindungen reduzieren, weil er meint, daß diese vor allem China nutzen, um ihn auszuspionieren. Es gibt also etliche bereits eingetretene oder möglicherweise noch eintretende Szenarien, die globalisierte Strukturen wieder auflösen können. Und folglich kann man in der Tat auch das mit dem Begriff „Deglobalisierung“ beschreiben.
Aber ist das, was wir erleben, nicht nur eine Unterbrechung der Globalisierung? Wird nicht, was wir jetzt für die Epochenwende der Deglobalisierung halten, in der künftigen historischen Rückschau nur wie ein kurzer Aussetzer erscheinen?
Crouch: Ich denke, genau so wird es sein. Denn sobald die jeweilige Krise überwunden ist, werden sich die gewinnträchtigsten Lieferketten erneut bilden. Weil man ebenso blind wie zuvor auf nichts anderes als den Einkauf möglichst günstiger Ware fokussiert sein wird. Und selbst wenn dann wieder eine Krise kommt, wird auch nach dieser wieder die Gier regieren, und so weiter und so fort. Andererseits aber kann das zu einer fatalistischen Einstellung führen, die unser ehemaliger Premierminister Tony Blair einmal formuliert hat: Wenn es keine echte Deglobalisierung gibt, sondern immer nur Unterbrechungen der Globalisierung, die danach unvermeidlich weitergehe, bleibe letztlich nichts anderes übrig, als sich von ihr überrollen zu lassen. Ich sage: Ja, sie wird immer weitergehen. Aber „überrollen“? Nein! Den wir können sie zwar nicht stoppen – wohl aber regulieren. Vielleicht sollten wir statt von Deglobalisierung daher besser von regulierter Globalisierung sprechen. Und wer glaubt, ihre Regulierung sei nicht möglich – falsch: Das ist allein eine Frage des politischen Willens!
Aber scheitern denn etwa ein Verbot von Sklaverei und Kinderarbeit und die Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindeststandards am Westen? Bei uns gibt es das alles doch längst. Sind es nicht Länder wie China, die sich beschweren, Demokratie und Menschenrechte seien westliche Werte, deren Aufzwingen man sich verbiete?
Crouch: Das stimmt, doch wenn es um die Durchsetzung von Interessen geht, sind uns im Westen immer nur die des Freihandels und des Kapitalismus wichtig, nicht aber die des sozialen Ausgleichs. Außerdem frage ich Sie: Wer ist es denn, der Bürger- und Arbeiterrechte als angeblich „westliche Werte“ ablehnt? Sind das wirklich „die“ Chinesen? Das Volk, die Arbeiter und Angestellten? Oder ist das nicht nur die relativ kleine Kaste der kommunistischen Parteiführung? Es wäre völlig falsch anzunehmen, daß solche Regierungen für die Interessen und Ansichten ihrer Bürger sprechen.
Ja, aber können wir uns deshalb anmaßen, daß wir für ihre Bürger sprechen?
Crouch: Das sage ich ja auch nicht. Ich sage, daß wenn wir ein Welthandelssystem schaffen, wir es nach unseren Werten gestalten sollten. Und zwar nicht nur nach denen des Kapitalismus, sondern auch nach denen der Demokratie. Und wenn ein Land dann unserem Welthandelssystem beitreten möchte: Herzlich willkommen – aber das hier sind die Regeln, und auf denen bestehen wir!
Nicht wenige verstehen unter Deglobalisierung etwas weiteres, nämlich das Scheitern des Westens – egal ob in Gestalt kapitalistischer oder demokratischer Werte.
Crouch: Das Scheitern des Westens liegt in dem inhärenten Widerspruch begründet, in dem seine Werte zueinander stehen: Zwar ist der Kapitalismus auch westlicher Herkunft, aber wenn wir unter „westlichen Werten“ Demokratie, sozialen Fortschritt und Umweltbewußtsein verstehen, dann war die westlich-kapitalistische Globalisierung bisher zugleich auch ein Frontalangriff auf unsere eigenen Werte! Deshalb votiere ich ja für eine regulierte Globalisierung, die zwar den Freihandel fördert – aber nicht auf Kosten, sondern im Ausgleich mit demokratischer, sozialer und ökologischer Entwicklung.
Bei diesem Deglobalisierungs-Verständnis ist aber wohl etwas anderes gemeint, nämlich daß nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Welt – mit Ausnahmen wie Kuba, Nordkorea und einiger islamischer Länder – fast völlig unter westlichen Einfluß geraten ist. Doch dieser „Durchmarsch“ des Westens endet nun, ja er ist regressiv: wegen des Aufstiegs Chinas, Indiens und vielleicht künftig auch Brasiliens zu Welt- oder Großmächten sowie wegen der Neuausrichtung des bisherigen Partners Rußland, als „neuem alten“ Gegner des Westens.
Crouch: Das mag vorkommen, aber entscheidend ist doch, daß auch all diese neuen Mächte weiterhin nach kapitalistischen Werten verfahren! Es mangelt also an Rechten: das Recht auf freie Rede, Arbeitnehmerrechten, Frauenrechten, Minderheitenrechten etc. Sind das „westliche Rechte“, wie einige einwenden, oder nicht doch universelle Menschenrechte? Gewiß gibt es viele Menschen in diesen Ländern, besonders in Indien und Brasilien, die für solche Rechte kämpfen – mit oder ohne Hilfe des Westens!
Ob nun „Epochenwende“ oder nur „kurze Unterbrechung“ – wie sollten unsere Regierungen auf die Deglobalisierung reagieren?
Crouch: Nun, warum eigentlich waren westliche Regierungen oft so versessen darauf, die Globalisierung voranzutreiben, wenn sie sich doch auch auf ihre Länder negativ auswirkt? Ich glaube, dahinter steckt die neoliberale Idee, daß die Menschen sich nicht als Arbeitnehmer, sondern als Konsumenten verstehen sollen. Warum? Weil man ihnen nur ungern höhere Löhne zahlen möchte. Um sie aber dennoch zu belohnen, bot man ihnen lieber die Waren günstiger an. Und zwar, indem man diese nicht mehr im eigenen Land, sondern in Bangladesch, Indien, China etc. herstellen ließ. Das war der „Deal“, den man, speziell in den USA, ab den siebziger Jahren quasi mit den Arbeitnehmern „geschlossen“ hatte: Erhöhung des Lebensstandards durch niedrigere Preise zu Lasten der Arbeiter in armen Ländern.
Aber sind die Reallöhne, auch in den USA, nicht kontinuierlich gestiegen?
Crouch: Nein. Es gibt seit dreißig oder vierzig Jahren eine Stagnation der Reallöhne unter amerikanischen Arbeiternehmer mit mittleren und niedrigen Löhnen. Ihr Lebensstandard war durch billige Importe und durch jene unsicheren Kredite möglich, die schlußendlich eine Ursache der Finanzkrise von 2008 waren.
Muß in Zukunft nicht jede Regierung eine Phase der Deglobalisierung mitdenken und einplanen – also ein gewisses Maß an Autarkie anstreben, ein Land nicht völlig abhängig machen etc.?
Crouch: „Mitdenken und einplanen“ gewiß – „Autarkie anstreben“ aber gar nicht. Denn die Welt hat eine konstruktive Mitarbeit sowie eine geteilte Souveränität durch die Staaten, die guten Willens sind, absolut nötig: um eine chaotische, kompetitive Deglobalisierung zu vermeiden und Herausforderungen wie der Klimakrise und eventuellen neuen Pandemien gegenüberzutreten. Nur kostet all das natürlich Geld. Denn dann ist es nicht mehr möglich, immer nur auf den günstigsten Preis zu schielen. Das ist ja eine Lektion, die Ihr Land gerade mit Blick auf das russische Erdgas lernen muß. Ich fürchte aber, sobald eine Krise vorbei ist, werden die meisten Politiker kein Interesse mehr daran haben, den Bürgern für Krisenvorsorge etwas extra abzuverlangen – bis uns dann die nächste Krise trifft. Auch das ist also ein Argument dafür, die Globalisierung dringend zu regulieren!
… Alles vom 19.8.2022 bitte lesen in der JF 34/22, Seite 3
https://www.junge-freiheit.de
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Prof. Dr. Colin Crouch: Der Soziologe und Politikwissenschaftler gilt seit seinem Buch „Postdemokratie“ (2008) – einer der „meistbeachteten politischen Schriften der vergangenen Jahre“ (Spiegel) – als „der Mann, der die europäische Demokratiedebatte aufgeladen hat“ (Zeit). Auch seine folgenden Bücher wie etwa „Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“ (2015) oder „Der Kampf um die Globalisierung“ (2018) fanden hierzulande Beachtung. 2021 erschien mit „Postdemokratie revisited“ sein jüngster Band. Colin Crouch wurde 1944 in London geboren und lehrte in Oxford, Florenz und an der Universität Warwick in Coventry.