Digitalfreiheit

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Blick vom Dreisamtal nach Westen über Freiburg bis zu den schneebedeckten Vogesen 2/2022

 

Digitalfreiheit – Leben im Analogen
Überlegungen zu einem Grundrecht auf Digitalfreiheit
Nicht so harmlos, wie ihr denkt
von Dietmar Mehrens
Erinnern Sie sich an HAL 9000? HAL, das war in Stanley Kubricks visionärem Weltraumepos „2001: Odyssee im Weltraum“ von 1968 der Bordcomputer eines Raumschiffs, der gegen den Willen des menschlichen Kommandanten die Kontrolle übernimmt. Kubrick nahm damit vorweg, was sich in jüngst zurückliegender Zeit deutlicher als zuvor abzeichnet: die Schattenseiten der Digitalisierung.
Im Juli wurde der Vorstoß von Bundesinnenministerin Nancy Faeser zu einer Grundgesetzänderung bekannt: Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) soll eine Zentralstelle werden, um die Verantwortung für Cybersicherheit von den Ländern auf den Bund zu übertragen. Hintergrund des Vorschlags sind mehrere Cyberattacken auf Kliniken und staatliche Stellen. Doch das Phänomen der universellen Digitalisierung ist viel grundsätzlicher auf den Prüfstand zu stellen. Was im Schafspelz des Fortschritts und einer willkommenen Optimierung daherkommt, ist in Wahrheit ein gefräßiger Wolf, der einer immer grotesker wirkenden Entmündigung des Individuums den Weg freibeißt.

Dabei irritiert vor allem, daß „Klimaschützer“ die Digitalisierung, einen Hauptfaktor des von ihnen angeprangerten desaströsen Konsumismus, nur marginal anfeinden. Schon vor zehn Jahren hätte eigentlich ein Aufschrei durch die Republik gehen müssen, zumindest in dem Teil der Gesellschaft, in dem Naturfreunde, Ressourcenschoner und Ökobewegte die öffentliche Meinung beherrschen. Bei der Abschaltung des analogen Satellitenfernsehens entstand binnen kürzester Zeit ein Riesenhaufen Elektroschrott. Das TV-Theater wiederholte sich kurz darauf mit dem Ende des Fernsehens via DVB-T: Alle Empfangsgeräte, wenige Jahre zuvor noch als Revolution im Antennenfernsehen gepriesen, waren von heute auf morgen unbrauchbar.

Die Elektroschrottwelle war der Vorbote dessen, was wir jetzt in der Generation Smartphone in potenzierter Form erneut erleben: daß einem ungefragt eine neue Technologie als definitives Nonplusultra übergestülpt wird, deren Vorteile sich zwar nicht jedem sogleich erschließen; aber das wird er schon lernen. Lernen müssen. Wegen des üppigen Werbeetats der großen Technologie-Fürsten, allen voran der üblichen Verdächtigen des von der Politik bereitwillig herbeischwadronierten Digitalzeitalters, und effizienter Lobbyarbeit bei den mit ihnen verbündeten Entscheidungsträgern bleibt dem Bürger keine Wahl. Ihm droht der Ausschluß, wie insbesondere die Corona-Krise erwiesen hat: Ausschluß bei Behörden, die Termine nur online vergeben, bei Krankenversicherern, deren Filialen wegen Infektionsgefahr geschlossen blieben, bei Banken und Postfilialen, die den direkten Kundenkontakt im ländlichen Raum wegrationalisieren. Ausschluß sogar im Supermarkt, wo es neuerdings viele Rabatte nur bei Nutzung einer Smartphone-Applikation gibt, oder aus dem Schwimmbad, wie ein Rentner aus Ravensburg gegenüber den ARD-„Tagesthemen“ beklagte: Ohne App und Internet gehe da nichts. Schon warnen Experten von Sozialverbänden und Seniorenräten vor digitaler Diskriminierung, vor einer Spaltung der Gesellschaft, bei der vor allem Ältere und Ärmere auf der Strecke bleiben.

Natürlich nehmen auch immer mehr Rentner gern ein Smartphone in die Hand. Irgendwas passiert ja schließlich immer, wenn man mit dem Finger in diese oder jene Richtung wischt, irgendwas antippt oder irgendwo klickt. Aber kaum jemand weiß, was sich da im Hintergrund tut. Es gibt zwar eine Regel zu Cookies, durch die den Nutzern seitens der Webseitenbetreiber die Gelegenheit eingeräumt wird, erst ihr Einverständnis mit der Datensammelwut zu Werbezwecken zu erklären. Doch die meisten klicken unkritisch auf „Alle akzeptieren“, damit sie schnell weiterkommen. Geduld ist bei Internetnutzern keine verbreitete Tugend. Die Bereitwilligkeit, mit der fast alle sich ihre privaten Daten abmelken lassen wie brave Milchkühe, macht schaudern, die Aussichtslosigkeit des Protests dagegen verzagen. Das Digitalzeitalter gleicht einer riesigen Tsunamiwelle, die alles mitreißt, was sich ihr in den Weg stellt.

Fatal erinnert der Triumphzug der neuen, digitalen Feudalherren an die großen Gesellschaftstransformationsversuche des 20. Jahrhunderts, an die Massenmanipulationsmöglichkeiten der Machthaber, die Kälberblödheit der Mitmarschierer und die Hysterie, in der all das schließlich gipfelte. In ihrer reinsten Form sitzen die Digital-Stalinisten von heute in China, wo das Individuum traditionell wenig gilt. Inzwischen läuft im Konfuzius-Kommunismus praktisch jeder Bezahlvorgang über Alipay oder Wechatpay. Ein Sozialpunktesystem (JF 20/19) belohnt Konformisten mit Vergünstigungen und belegt Nonkonformisten mit Sanktionen.

In einem Vorzeigedorf, von dem der ARD-„Weltspiegel“ berichtete, werden an Haustüren Tugendplaketten befestigt. Sie zeigen den Punktestand der Bewohner in vier bewerteten Disziplinen an. Rote KP-Sterne geben öffentlich Auskunft über die Gesetzestreue und den Zustand von Haus und Garten. Welche Segnungen den Bürger mit der Corona-Warn-App erwarten, die auch bei uns als Quantensprung in der Pandemiebekämpfung angepriesen wurde, mußte die chinesische Anwältin Wang Yu erfahren. Als sie zu einer Protestkundgebung reisen wollte, stand ihre Corona-Ampel auf einmal auf Gelb. Das schränkte ihre Bewegungsfreiheit massiv ein. Der QR-Code der App muß für die ÖPNV-Nutzung gescannt werden, und ohne grünen Code geht nichts: die Gesundheits-App als Konformismus-App. Wer nicht linientreu ist, muß zu Hause bleiben.

Mit der digitalen Währung, dem digitalen Führerschein, der digitalen Steuererklärung, Bus- und Bahnfahrplänen, die es – um Papier zu sparen – nur noch „per App“ oder „QR-Code“ gibt, ist auch hierzulande der Überwachungsstaat möglich. Wenigstens aber ein Angriff auf das Recht des Bürgers, sein Leben nach eigenen Grundsätzen zu führen. Begleitet ist der Aufstieg des illiberalen „App“-okratismus von leiser Ironie: Ausgerechnet die Liberalen machten die Digitalisierung zum Motto zweier Wahlkämpfe und könnten so zum Totengräber ihrer eigenen Werte werden.

Vor dem technokratischen Totalitarismus warnen Filme fast so lange, wie es das Medium gibt – von Fritz Langs „Metropolis“ (1927) über die Orwell-Adaption „Brazil“ (1985) bis hin zur Fernsehserie „Der Report der Magd“ nach Margaret Atwoods dystopischem Roman. Am Anfang steht immer die totale Macht einer Minderheit. Die Tech-Giganten Apple, Amazon, Facebook und Co. gelten vielen als westliche Oligarchen. Die Covid-Krise hat die schon vorher Superreichen noch reicher gemacht. Google beispielsweise konnte 2021 seine Werbeumsätze auf mehr als 183 Milliarden Euro steigern. Den Preis zahlt das Klima: Eine Sekunde mit einer Million Google-Suchanfragen entspricht mit 300 Kilowattstunden dem Quartalsstromverbrauch eines Single-Haushalts, 30 Minuten Netflix-Unterhaltung dem CO2-Wert von sechs Kilometern Autofahren. Das Videostreamen habe im Jahr 2018 weltweit mit 200 Milliarden Kilowattstunden soviel Strom verbraucht wie Polen, Italien und Deutschland zusammen, rechnete das Energieunternehmen Eon im März 2019 vor und rät auf seinen Webseiten bereits, „lieber wieder häufiger das TV-Gerät live“ einzuschalten oder DVDs zu nutzen.

Anders gesagt sind die Großrechner, die die Tech-Giganten betreiben, um mehr und immer noch mehr Daten speichern und um die ganze Welt schicken zu können, die hungrigsten Stromfresser des Universums und das Wort „streamen“ die dreisteste Framing-Lüge seit der Erfindung der „reproduktiven Rechte“. Es klingt nach Amazonas, nach einem großen Fluß, der im Grün des Urwalds ruhig und gelassen vor sich hin strömt. In Wahrheit ist das „Streamen“ nicht grüner als eine Asphaltwüste. Seit auch im Land der Bündnisgrünen Kiefernwälder und andere grüne Lungen Windkraftparks und E-Auto-Fertigungshallen weichen müssen, dürfte selbst dem mit der längsten Leitung klar geworden sein, daß Naturschutz und neue Technologien sich nicht besser miteinander vertragen als Tom und Jerry. Trotzdem wird man in nächster Zukunft weder Laptops und Smartphones in Mengen durch die Fenster von Jugendlichen auf die Straße fliegen sehen, damit sie dort bei der nächsten „Fridays for Future“-Demo konsequent plattgetreten werden, noch sogenannte Influencerinnen wegen ihres desolaten CO2-Fußabdrucks zu hassenswerten „Youtubioten“ erklären.

Kurios ist, daß die Digitalisierung linke und rechte Ideale gleichermaßen bedroht, sowohl das Klima als auch die Freiheit. Säen Tech-Giganten deshalb so viel Zwietracht zwischen den politischen Lagern?

Der Kerngedanke der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist der Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür. Diesen Geist des Grundgesetzes sollten verantwortungsvolle politische Kräfte, die die Gefahr erkannt haben, die von einer zügellosen Digitalisierung ausgeht, jetzt entschieden in Erinnerung rufen und auf Maßnahmen drängen, die das Technokratie-Monster einhegen.

Überlegungen zu einem Grundrecht auf Digitalfreiheit – die Freiheit des Bürgers, nicht durch den Staat zur Nutzung digitaler Dienste genötigt zu werden – dürften daher zielführender sein als das Herumdoktern an Symptomen, wie es die Innenministerin tut. Wurde der Durchmarsch der Digitalisierer, der seitens der sonst so wachen Zivilgesellschaft überraschend wenig Widerspruch erfuhr, nicht etwas zu leichtfertig hingenommen? Überlegungen, die, analog zur Koexistenz von Bar- und Buchgeld, darauf zielen, parallel zur Digitalisierung eine nicht-digitale Grundversorgung sicherzustellen, könnten auch mit Blick auf die Cybersicherheit, um die die Ministerin sich sorgt, ratsam sein. Die „Zukunftskoalition“ hat zwar – mit etwas Nachhilfe durch den Kriegsausbruch im Osten – verstanden, daß die Digitalisierung Deutschland verwundbarer macht. Aber im Hinblick auf Bürgerrechte ist auf jeden Fall noch mehr „Zeitenwende“ möglich.

… Alles vom 2.9.2022 von Dietmar Mehrens bitte lesen in der JF 36/22, Seit 18
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Dr. Dietmar Mehrens, Jahrgang 1967, ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er lehrte zwischen 2003 und 2016 deutsche Sprache und Literatur an zwei verschiedenen Universitäten in der VR China sowie an der Kim-Il-sung-Universität in Pjöngjang. Von 2005 bis 2008 war er Moderator und Redakteur des von ihm konzipierten Kino-Ratgebers film-o-meter, ausgestrahlt auf Bibel.TV. Heute ist er als Dozent, Publizist und Herausgeber tätig.

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Kommentar:
Dieser Aufsatz verdient die Schulnote 1+. Besonders der Vorschlag, ein Grundrecht auf Digitalfreiheit einzuführen, ist eine glänzende Idee.
Ein schleichender Zwang zur Digitalisierung läuft schon seit Jahren. In TV-Nachrichten ist fast täglich zu hören: „Mehr zu diesem Thema erfahren Sie unter www….“ usw. Banken und Sparkassen belästigen ihre Kunden ständig mit Propaganda für „online banking“. Angeblich würde durch die Digitalisierung Papier gespart und so die Wälder geschont. So werden nicht nur ältere, sondern vor allem auch ärmere Leute, die sich keinen Computer leisten können, diskriminiert.
Trefflich entlarvt der Autor auch die Heuchelei der „Klimaretter“, für die die stromfressende Digitalisierung kein Thema ist. Der Bau von Windrädern gefährdet (auch) die Wälder, während Papier wiederverwertet werden kann. Die Vorteile der Digitalisierung sind zwar unbestritten, doch ein Zwang hierzu steht im Widerspruch zu Freiheit und Demokratie.
15.9.2022, Günter Foerster, Bielefeld, JF 38,22, Seite 23