Unsere Friedhöfe sind nicht mehr ausgelastet. Drei Gründe: Eine schrumpfende Gesellschaft gibt immer weniger Tote her. Immer mehr Individualisten wollen nicht mehr ins Schema der Reihengräber passen. Viele planen, am liebsten spurlos zu verschwinden, dabei aber pflegeleicht und preiswert. Dies trifft auch für den größten unter den 30000 Friedhöfen in Deutschland zu – Hamburg-Ohlsdorf, der bis heute 1.5 Mio Leichen aufgenommen hat: 391 Hektar Fläche (größer als der Central Park in New York oder auch der Vatikan), 17 km Strasse, 87 km Wasserrohre, 700 Brunnen, 1300 Bänke, 24 Bushaltestellen, 300 Friedhofsmitarbeiter, eingeteilit in Hunderte Planquadrate von AH7 bis ZX13. Ohlsdorf sind Friedhöfe in einem: Kriegsgräber, Massengräber, Opfergräber, Tätergräber, Soldatengräber, Kindergräber, Prominentengräber, Seemannsgräber (in BI58) bzw. Chinesengräber (auf BP68). Der Anteil der Einäscherungen nahm von 0.02% in 1900 auf 73% zu – die Kremation nach Nordosten hin zu: Durchschnitt in D 50%, Stuttgart 40%, Berlin 80% und Rostock 90%. Für die Asche gilt die Friedhofspflicht, doch der Begriff des Friedhofs wird immer weiter gefasst: Friedwald (der erste in 2002 in Kassel), Ruheforst, Roheberg, Ruhewald, … Die anonyme Urnenbestattung kostet ca 850 Euro – Ohlsdorf beherbert über 40000 Urnen in drei anonymen Grabfeldern, garantiert biologisch abbaufähig.
Brauchen wir im Zeitalter der Mobilität noch ein sorgsdam gepflegtes Grab? Wer kommt überhaupt noch zum Trauern in den Friedhof in einer Stadt, in der in jedem zweiten Haushalt ein Single lebt? Demzufolge boomt die Urnenbestattung´und das Geschäft rund ums Verbrennen ist längst zu einem freien Markt mit Kampfpreisen geworden. Immer mehr private Krematorien werden gebaut, einige in Gewerbegebieten. Wers billiger haben will, fährt die Verstorbenen zum Verbrennen nach Tschechien. Einäschern in Polen, Importsarg aus Rumänien, bestatten auf dem hiesigen Friedhof. Der moderne Volksfriedhof bietet jedem etwas: Vom Billiggrab für 850 Euro über das Modern-Grab im Apfelhain-Gräberfeld mit 80 Urnen- und 20 Sarggräbern unter 15 Apfelbäumen bis hin zum Premiumgrab für 6500 Euro.
Nach der Freigabe durch den Amtsarzt brennt die Leiche im Ofen des Krematoriums. Gut eine Stunde bei 900 Grad. Erst brennt der Sarg, dann die Haare. Das Körperfett verflüssigt sich zu Öl und zerkocht das Fleisch und verkohlt die Muskeln. Gut eine Stunde, bei Krebskranken doppelt so lange (eine lange Chemotherapie macht den Körper fast feuerfest). Am Ende bleiben vier bis fünf Kilo Ascheflocken, ein paar Knochen, aber auch Zahnersatz und künstliche Hüftgelenke. Schließlich sammelt sich der ganze Zivilisationsschrott im Menschen: Antibiotika, Quecksilber, Weichmacher, Pestizide. Im Filter des Krematoriums finden sich mehr und mehr Furane und Dioxine, die als Sondermüll in einem Bergwerk verklappt werden müssen. „Was du zu Lebzeiten gelebt hat, erlebst du auch im Tod“, so ein erfahrener Friedhofsarbeiter.
Der Mainstream suggeriert: Trauer braucht keinen realen Ort, auch die Cloud tuts. In Onlinefriedhöfen wie „Strasse der Besten“ oder „Stay alive“ zündet man eine virtuelle Kerze an, betrachtet Fotos und Videos der Verstorbenen, unabhängig davon, wo man sich gerade befindet.
Es gibt sie aber noch, die Gegner der Privatisierung des Todes, die Befürworter der tradierten Friedhofskultur. Denn der Friedhof bietet die richtige Halbdistanz zwischen Toten und Lebenden – als Ort, an dem langsam Gras darüber wachsen kann. Schließlich gehört der Tote der Gesellschaft und nicht nur einem (der ihn in der diamantenen Schmuckurne um den Hals trägt) oder wenigen (die über einen kostenpflichtigen Internet-Account verfügen oder einen Torschlüssel zu Erinnerungspark, Schmetterlingsgarten, Rosenhain, Paaranlage bzw. Themengrabstätte) oder niemandem (da mit der Rakete ins All geschossen und dort verglüht). Die meisten Friedhöfe bieten etwas, was in der Stadt immer rarer wird: Grün, Natur, alte Bäume, Büsche, Laub, Vogelgezwitscher und Eichhörnchen. Sollte man sie nicht auch deshalb diesen notleidenden Randgruppen zugänglich machen: Kindern und Radfahrern?
1.11.2013