Michael Esfeld: Land ohne Mut

Nach „Und die Freiheit?“ gibt Michael Esfeld seinem zweiten zur Coronazeit erschienenen Buch den Titel „Land ohne Mut“. Zielt Esfeld dabei auf den 1784 von Immanuel Kant formulierten Leitspruch der Aufklärung „Sapere aude!“ bzw. „Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“ ab? Schließlich hatten während 2020-2022 viele Bürger ihren gesunden Menschenverstand abgeschaltet, um die Coronamaßnahmen gehorsam zu befolgen und die Freiheitseinschränkungen des „politischen Szientismus“ untertänig hinzunehmen.
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Michael Esfeld selbst zeigte Mut: Als die Leopoldina (Akademie der Wissenschaften in München) im Dezember 2020 ihre siebente Adhoc-Stellungnahme publizierte, die Angela Merkel umgehend zur Legitimation ihres über Monate hinweg andauernden Lockdown nutzte – die vor allem für die Kinder verheerenden Folgen sind bekannt -, ging Esfeld mit einem offenen Brief auf Konfrontation zur Leopoldina, deren Mitglied er selbst ist. Natürlich wurde er deshalb von Politik, Medien und NGOs heftig kritisiert. Doch der weltweit geachtete Universitätsprofessor blieb standhaft und behielt zudem rückblickend in allem recht.
„Land ohne Mut“ ist ein Geschichtsbuch zu den Coronajahren 2020 bis 2022, das zur Pflichtlektüre an Schulen und Hochschulen gemacht werden sollte. Schließlich gelingt es dem Wissenschaftsphilosophen Esfeld, mit vielen Beispielen und einer verständlichen Sprache zu erklären, wie sich das Zusammenwirken von Wissenschaft, Politik (Staat incl. Medien und NGOs) und Bevölkerung – Volk darf man ja nicht mehr sagen – in diesen drei Jahren geändert hat. Er macht diese Änderungen fest an den Begriffen politischen Szientismus und postmoderner Totalitarismus.

Politischer Szientismus
Fakten: Wissenschaftler sammeln Daten, anhand derer sie Hypothesen entwickeln, die solange gelten, bis sie falsifiziert bzw. widerlegt sind. Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein Prozess fortschreitender Falsifikation. Wissenschaftler arbeiten ergebnisoffen und unabhängig, weshalb es die eine Meinung bzw. die eine Wissenschaft nicht gibt. „Follow the science“ macht keinen Sinn, da es die Wissenschaft im Singular nicht gibt.
Normen: Werte, die auf ein Ziel gerichtet sind, gelten als Normen. Aus Fakten lassen sich genauso wenig Normen ableiten wie Wissenschaftler selbst Normen formulieren können (bzw. dürfen). Wissenschaft ist stets wertfrei.

Aufgabe der Politik ist es, anhand der Fakten (was ist) und der Normen (was sein soll) Handlungsanweisungen zu formulieren, die mehrheitsfähig sind, um sie dann in Form von Gesetzen (durch Parlament) oder Verordnungen (durch Regierung bzw. Kabinett) in Kraft zu setzen. Die Wissenschaft selbst legitimiert niemals Handlungsanweisungen, dies ist allein Aufgabe von Regierung und Parlament. Denn: In der Politik entscheiden Mehrheiten, in der Wissenschaft entscheiden Fakten.
Im „politischen Szentismus“ sind Wissenschaft und Politik verbandelt: Die Wissenschaftler bzw. Scientologen liefern Gefälltigkeitsstellungnahmen als Mixtur aus Fakten und Normen, die die Politiker dann dankend entgegennehmen und in Gesetze gießen können. Die Stellungnahme der Leopoldina von 12/2020 lautete: „Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern.“ Angela Merkel setzte diese Eins-zu-Eins um, obwohl zu diesem Zeitpunkt das Scheitern der Lockdown-Strategie wissenschaftlich gesichert ist (Prof Ioannidis et al, Stanford). Aber Merkel hörte nur auf die Leopoldina in München und das RKI in Kiel.
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Postmoderner Totalitarismus
Im Gegensatz zum traditionellen Totalitarismus (Kommunismus, Nationalsozialismus) hat der „postmoderne Totalitarismus“ kein einzelnes grosses Narrativ: „An seine Stelle treten kleine Narrative, die jeweils ein austauschbares kollektives Gut postulieren. Das kann Gesundheitsschutz vor der Ausbreitung eines Virus sein, Schutz vor Klimawandel, Schutz angeblich benachteiligter Gruppen usw.“ Das macht dieses totalitäre System so gefährlich wie eine Hydra: Auf ein nicht mehr zeitgemäßes Narrativ folgt rasch ein neues. So wird vielleicht das „Gegen rechts„-Narrativ abgelöst werden durch das „Ukrainekrieg“-Narrativ?
In der Durchsetzung der Corona- und Klima-Narrative erkennt Michael Esfeld eine Machtzunahme des Staates, mit der eine Abkehr vom demokratischen zum aristokratischen System bis hin zu Kollektivismus und Totalitarismus verbunden ist. Der Staat garantiert dem Bürger dessen Grund- bzw. Freiheitsrechte nicht mehr, sondern läßt  sich diese durch Gehorsam und Wohlverhalten ‚verdienen‘. Die Abwehrrechte gegen den übergriffigen Staat (die der Bürger qua Geburt besitzt) werden zu Anspruchsrechten an den vermeintlich fürsorgenden Staat (die er sich nach dem chinesischen Vorbild des sozialen Kreditsystems verdienen muß) reduziert.
„Wenn die Staatsgewalt nicht mehr die Freiheit aller negativ sichert als Schutz vor und Bestrafung von ungewollten Eingriffen in die eigene Lebensführung jeder Person, sondern sich anschickt, Freiheit positiv zu befördern, dann schränkt sie Abwehrrechte ein, um Anspruchsrechte zu befördern. Es gilt dann nicht mehr gleiches Recht für alle. Personen haben dann Ansprüche auf bestimmte Förderungen seitens des Staates; die Staatsgewalt holt sich die Mittel, um diese Ansprüche zu erfüllen, indem sie diesbezüglich Abwehrrechte einschränkt.“ (Esfeld, S. 156). Damit wird der Rechtsstaat beerdigt, da das Prinzip „gleiches Recht für alle“ nicht mehr gelten kann.
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Durch den politischen Szientismus wird unser „Land ohne Mut“ in den postmodernen Totalitarismus hinabgleiten. „Es ist eine Entflechtung der Machtkonzentration bei der Staatsgewalt erforderlich, genau wie zu Beginn der Moderne das Machtkonglomerat von Kirche und Staat zerschlagen wurde und sich dadurch der Rechtsstaat und die freie Wissenschaft entwickelt haben.“ Das Jahr 2024 markiert also einen Wendepunkt – oder auch keinen.
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Esfeld’s Buch „Land ohne Mut“ durfte auf der Frankfurter Buchmesse 2023 weder ausgestellt und beworben werden. Warum wohl? Gilt die Freiheit des Wortes in Deutschland nicht mehr? Dazu die Literaturprofessorin Henrieke Stahl (mehr hier): „Corona ist vorbei, die Aufarbeitung ebenso – eingestanden werden kleine Fehler, aber im Großen und Ganzen haben ‚wir‘ alles gut gemacht, und eine Kommission zur Evaluierung der Pandemiepolitik hält der Bundestag auch nicht für nötig. Da stört ein Buch wie das von Michael Esfeld – renommierter Philosophieprofessor an der Universität Lausanne und Mitglied der Leopoldina. Denn es formuliert, geradezu philosophisch trocken, einen Einspruch und richtet einen Weckruf an die Zivilgesellschaft: Der ‚Trend‘, der den Umgang mit dem Coronavirus bestimmt hat, ist nicht vorbei.“
Dieser Trend hin zur Machtzunahme des Staates und zu Rechteverlusten der Bürger droht sich fortzusetzen – vom Corona-Narrativ zum Klima-Narrativ, Energie-Narrativ, EU-Narrativ und Krieg-Narrativ.
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Michael Esfeld ruft die Bürger auf, ihrer wohlstandsverwöhnten Bequemlichkeit zu entsagen und zu eigenem Handeln zurückzufinden. Dazu formuliert er am Ende seines Buchs drei Schritte:
„- Urteilskraft stärken,
– Skepsis gegenüber Machtkonzentration und Aufbau vom Staat unabhängiger sozialer Gemeinschaften,
– Zivilcourage zeigen mit dem Mut zu freiem öffentlichen Gebrauch seines Verstandes.“
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Auf https://www.michaelesfeld.com hat der Autor unter „Öffentlichkeit“ eine Vielzahl von Links zusammengestellt. Auszüge aus einigen Buchrezensionen finden Sie auch hier.
25.2.2024

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