Menschenverstand

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Michael Esders: Ohne Bestand – Angriff auf die Lebenswelt
Widerstand mit Vernunft
Gesunder Menschenverstand: Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Michael Esders hat den Sumpf alltäglicher Verrücktheiten erforscht
von Thorsten Hinz

In Bertolt Brechts „Rede über die Widerstandskraft der Vernunft“ heißt es: „Tatsächlich kann das menschliche Denkvermögen in erstaunlicher Weise beschädigt werden. Dies gilt für die Vernunft der einzelnen wie der ganzer Klassen und Völker. Die Geschichte des menschlichen Denkvermögens weist große Perioden teilweiser oder völliger Unfruchtbarkeit, Beispiele erschreckender Rückbildungen und Verkümmerungen auf. Der Stumpfsinn kann, mit geeigneten Mitteln, in großem Umfang organisiert werden. Der Mensch vermag unter Umständen ebensogut zu lernen, daß zwei mal zwei fünf, als daß es vier ist.“
Der Text aus dem Jahr 1936 ist von beklemmender Aktualität. Der gesunde Menschenverstand verzweifelt, wenn eine Außenministerin eine „feministische Außenpolitik“ proklamiert. Wenn die Mann-Frau-Binarität als „soziales Konstrukt“ entlarvt und im Namen fluider Vielgeschlechtlichkeit mittels Gender-Sprache dekonstruiert wird. Wenn eine Migrationshintergründlerin (Ferda Ataman), deren Qualifikation das „Kartoffel“-Bashing ist, zur Bundesbeauftragen für Antidiskriminierung berufen wird. Wenn ein Bundespräsident verkündet, daß der „Spaziergang seine Unschuld verloren (hat)“ und ihn mit „Haß und Gewalt gegen Menschen“ in Zusammenhang bringt, weil Bürger nach Monaten sinnfreier Bewegungs- und Kontaktverbote ihr Bedürfnis nach frischer Luft und Umgang mit anderen geltend machen.

Viele haben vor dem pausenlosen Irrwitz kapituliert. Alle Versuche, ihn mit Statistiken, mit dem Nachweis von Selbstwidersprüchen und fehlender Validität zu widerlegen, haben nichts bewirkt, höchstens Sanktionen nach sich gezogen. So ziehen sie sich auf die resignative Einsicht zurück, einer absurden, dem Logos unzugänglichen Wirklichkeit ausgeliefert zu sein.

Ihnen kann geholfen werden. Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Michael Esders hat den Sumpf alltäglicher Verrücktheiten in seiner Tiefenstruktur erforscht und seine Oberfläche kartographiert. Vor drei Jahren hatte er in dem Buch „Sprachregime“ den „smarten Totalitarismus der Vielfalt und Differenz“ untersucht, der über eine ausgeklügelte Sprachgebung transportiert, vom Medienapparat propagiert und durch ein System aus Belohnung und Sanktion umgesetzt wird. („Gewalt steckt in weichen Worten“, JF 31/20).
Sein aktuelles Buch „Ohne Bestand“ erweitert die Perspektive. Es weist nach, daß die vordergründige Willkür in der Absurdität des Alltags einer kalten Rationalität mit einer klaren Zielrichtung folgt. Sie ist ein gezielter und durchgeplanter „Angriff auf die Lebenswelt“ und nimmt Kurs auf eine „Neue Normalität“, die von digital gefütterten und kontrollierten Wesen bevölkert wird. In dieser Hyperrealität, die an die Stelle der tradierten Wirklichkeit tritt, wird Leibniz’ „prästabilierte Harmonie“, mit der Gott die Einheit der Welt verbürgt, „zur Funktion algorithmischer Steuerung“.

Damit Menschen wie Zombies agieren, muß man sie ihrer Herkunft, Geschichte und Verortung, kurzum: ihrer Bestände berauben. „Das Wort (Bestand) verknüpft Wahrheit und Existenz mit zeitlicher Dauer“, es benennt eine „Zone unproblematischen Wissens“. Dazu rechnet Esders Institutionen wie die Gewaltenteilung, die Freiheitsrechte, das Bildungssystem, den Mittelstand, die Familie, vor allem aber „die ungeschriebene Grammatik des Üblichen und Gewohnten“, die Sprache als Bedeutungsträger und Kommunikationsmittel, „die Bestände einer bestandserhaltenden Vernunft“. Sie bilden ein Gerüst aus „Üblichkeiten“ und ergeben ein Vorverständnis, das keiner Erklärung bedarf, das Vertrauen, Sicherheit und Kontinuität stiftet und die Grundlage für soziales Handeln bildet.

Dieses Gerüst wird mit wachsender Aggressivität in Frage gestellt: Vor gut fünfzig Jahren konstatierte der Medienwissenschaftler Jean Baudrillard die „Agonie des Realen“. Mit der „Willkommenskultur“, der Klima- und Corona-Hysterie und dem Genderismus hat die Entwicklung eine ganz neue Qualität erhalten. Esders: „Von Kindheit an werden Menschen in einen fortwährenden Aufarbeitungsmodus versetzt.“ Sie sollen sich „als Dekonstrukteure ihres Alltags“ betätigen und ihn als „Brutstätte“ von Alltagsrassismus, Diskriminierung, Kolonialismus, Unterdrückung von Minderheiten usw. begreifen.

Die damalige Integrationsbeauftragte und heutige Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz erklärte kurz nach der Grenzöffnung 2015, das Zusammenleben im Einwanderungsland müsse täglich neu ausgehandelt werden. Das war ein erklärter Angriff auf „die Lebenswelt einer autochthonen Mehrheit“, zu deren Üblichkeiten es längst gehört, die eigenen Bestände zu reflektieren. Den meisten Einwanderern, die mehrheitlich aus archaisch geprägten Kulturen stammen, geht die Befähigung ab, und sie wird ihnen auch gar nicht abverlangt. Özoğuz’ Forderung – die lediglich die längst gängige Praxis beschreibt – läuft auf eine Beweislastumkehr und eine sukzessive Selbstaufgabe hinaus.

Den Hintergrund bilden der Hypermoralismus und der menschenrechtliche Universalismus. Der Habermassche Fehlschluß, ein kultureller „Hintergrundkonsens“ sei für ein „normatives Einverständnis auch unter Fremden“ gar nicht nötig, weil dieses durch eine demokratische Willensbildung hergestellt würde, ist zwar -zigfach widerlegt, aber weiter wirksam. Zudem bedeuten die Üblichkeiten aus Sicht der Poststrukturalisten aus Prinzip grundsätzlich einen Gewaltakt.

Zentral ist der Angriff auf die Sprache; er zerstört die letzte Sicherheit und macht die Entfremdung total. Ständig sind neue Tabus, Trends, Geßlerhüte zu beachten. „Was lange galt, gilt nicht mehr; was Halt und Sicherheit gab, wird zum rutschigen Parkett.“ Die Unsicherheit veranlaßt viele, sich der medial und digital vermittelten Hyperrealität anzupassen. Esders spricht von ihrer „Selbstbewahrheitung“, die, wie sich unter dem Corona-Regime zeigte, sehr schnell durchsetzen kann. In kürzester Zeit durchsetzten medizinische Fachausdrücke – „geimpft, genesen, getestet“, „Booster“, „Aerosole“, „Mutanten“ usw. – die Kommunikation und strukturierte die „biopolitische Klassifizierung“ das öffentliche und private Leben. Die „Kolonialisierung der Lebenswelt“ setzte zahlreiche Üblichkeiten und Freiheitsrechte außer Kraft und stellte sogar die Benutzung von Parkbänken unter Vorbehalt. Das chinesische Sozialpunktesystem ließ grüßen.

Faktizität und Sinnhaltigkeit spielten keine Rolle. Selbst wenn der Widersinn oder die Risiken von Maßnahmen nachweisbar waren, blieben sie durch die „moralische Kohärenz“ gerechtfertigt, denn sie waren ja darauf ausgerichtet, Leben zu schützen. Die moralische Kohärenz entspricht dem „ideologischen Suprasinn“, den Hannah Arendt in der totalitären Propaganda nachwies, und der noch die dümmste Anweisung als historisch notwendig zur Erreichung eines höheren Zwecks veredelt. Die heutige „Neue Normalität“ wirkt freilich subkutaner und nachhaltiger als der alte Totalitarismus bzw. Post-Totalitarismus. Jener mußte, um sich zu behaupten, seine lebenswidrige Normalität gegen die Faktizität der Außenwelt abschirmen. Doch die Berliner Mauer konnte nicht die geistige Republikflucht verhindern, die Millionen DDR-Bürger täglich antraten, indem sie die Westmedien einschalteten. Die „Neue Normalität“ ist hingegen global und umfassend, was die Gelegenheit gibt, das menschliche Hirn als Festplatte zu behandeln, die gelöscht und neu beschrieben wird. Die großen Medien- und Digitalkonzerne sind im Zusammenspiel mit den Regierungen und transnationalen Organisationen pausenlos damit beschäftigt, alternative Informationsquellen und Diskussionsforen als Schlupflöcher zu schließen. Das Lockdown-Muster ließe sich jederzeit reaktivieren.

Die Digitalisierung des Alltags verstärkt den Effekt, denn sie erübrigt die unmittelbaren sozialen Beziehungen, in denen Menschen reale Erfahrungen erleben und austauschen. Der isolierte Einzelne wird zur Monade in einer virtuellen Welt, in der die Einheit von Ort, Zeit, Geschichte aufgehoben ist. Das atomisierte Subjekt wird zum Objekt „größtmöglicher Verfügbar- und Berechenbarkeit“. An dieser Stelle sei angemerkt, daß vor hundert Jahren der Marxist Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ genau diese Totalentfremdung als einen Wesenszug der kapitalistischen Produktionsweise herausgearbeitet hat. Eine andere Frage wäre, wie weit diese Entwicklung, die sowohl die Gesellschaft als auch die Individuen beschädigt, andererseits den Bedürfnissen der Massengesellschaft und des Massenmenschen entgegenkommt.

Klar ist, daß sie sich auf keine temporäre Abfolge politischer Fehlentscheidungen reduzieren läßt, die durch neue parlamentarische Mehrheiten korrigiert werden können. Es sind auch keine Überspitzungen in einem Kulturkampf, die sich mit der Zeit abschleifen. Gewiß sind die Ideologeme aus dem Kulturmarxismus erwachsen, sie lassen sich aber „auch als Exaltationen eines bestandsvergessenenen Liberalismus deuten“. Esders zitiert Armin Mohler: „Salopp gesprochen: sechs konservative Jahrhunderte erlaubten es zwei Generationen, liberal zu sein, ohne Unfug anzurichten. Sind aber jene Bestände der permissiven Gesellschaft einmal aufgezehrt, so werden die bestgemeinten liberalen Parolen zu Feuerlunten.“

Aus dieser Einsicht einen Antiliberalismus abzuleiten, hält Esders jedoch für einen Fehler. Gerade für den Konservativen ist die Lage prekär. Seine Gewißheit, daß die Wirklichkeit auf seiner Seite steht und Ideologie und Propaganda an ihr schließlich zerschellen, wird hinfällig, wenn die Realität abgeschafft und Ideologie und Propaganda sich in Realität verwandeln. Die konservativen Tugenden – Pflichtgefühl, Selbstbescheidung, Respekt vor legitimer Autorität, eine auf Staat und Gemeinschaft bezogene Ethik – wenden sich dann gegen ihn und kommen allein den Zerstörern der Bestände zugute, als deren Hüter er sich wähnt. Die Begriffe und Institutionen sind bereits gekapert, und ihre Dekonstrukteure sind dabei, neue, posthumane und -historische Konstrukte zu verwirklichen und die Welt mit einem dirigistischen Planungssystem zu überziehen, in dem der Konservative überflüssig ist. Daher sollte er existentielle und humanistische Positionen beziehen und liberale Errungenschaften wie: Freiheit des Einzelnen, Selbstbestimmung, Mißtrauen gegen administrative Zumutungen verteidigen anstatt sie zu bekämpfen.

Esders resümiert, daß dieses System auf Suggestionen beruht und stellt – nun klassisch konservativ – anheim, daß seine ontologische Schwäche es für den Absturz anfällig macht. So könnte ein Kollaps des hyperrealen Finanzsystems auch „das übrige System der Selbstbewahrheitung zum Absturz bringen“. Das allerdings muß keine zwingende Katharsis nach sich ziehen. Das System könnte nach einer Schockphase seine Suggestionen steigern, mit geschürten Pogromen gegen tatsächliche oder vermeintliche Störenfriede im Betriebssystem für eine Triebabfuhr der Enttäuschten sorgen und sich auf höherer Ebene stabilisieren.
Wie dem auch sei, das richtige Leben im Falschen kann bis auf weiteres nur in der Diaspora gelingen, wo Bildung, Kultur, Nahbeziehungen gepflegt werden und die Widerstandskraft der Vernunft sich regeneriert. Der Konservative wird die Erfahrungen aus der Nischengesellschaft der DDR und der Inneren Emigration im Dritten Reich sichten und sich ein paar anarchische Tugenden zulegen müssen.

Esders hat ein anspruchsvolles und tiefgründiges Buch verfaßt. Er macht dem Leser die falsche, verrückte Wirklichkeit zugänglich und ihn damit ein bißchen stärker.
,,, Alles vom 2.3.2023 von Thorsten Hinz bitte lesen in der JF 10/23, Seite 13

Michael Esders: Ohne Bestand. Angriff auf die Lebenswelt.
Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, Neuruppin 2022,
284 Seiten, broschiert, 24 Euro