Journalist Reitschuster vogelfrei

Nach 16-jähriger Tätigkeit als ARD-Korrespondent in Moskau betreibt Boris Reitschuster die eigene Plattform https://reitschuster.de: Unabhängige Recherche, Journalist alter Schule (Trennung von Nachricht und Meinung), deshalb erfolgreich. Nachdem Reitschuster auf Demonstrationen im öffentlichen Raum mehrmals (zuletzt Kassel und Berlin) Opfer von Tätlichkeiten wurde, bei denen man ihn auch verletzt hatte, mache ich mir große Sorgen um diesen mutigen Journalisten.
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Medienleute müssen frei berichten können. Es darf nicht geduldet werden, daß Menschen mit Presseausweis bei ihrer journalistischen Arbeit und Recherche von politisch rechts, links oder wie auch immer Gesinnten durch verbale bzw. körperliche Gewalt behindert werden.
Alle Journalisten (natürlich auch Journalistinnen) besitzen die gleichen Freiheitsrechte. Doppelmoral bzw. zweierlei Maßstäbe passen zum totalitären System, nicht aber zu unserer Demokratie. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt für alle – den Bürger als Medienkonsumenten wie den Bürger als Medienschaffenden – gleich, ob letztere nun als Angestellte eines Medienhauses, als freie Mitarbeiter einer Zeitung oder als selbständige Journalisten unterwegs sind. Ich hoffe, daß meine Sorgen um Boris Reitschuster unberechtigt sind.
23.3.2021
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Auszug aus dem Wochenbriefing vom 23.3.2021 von Boris Reitschuster
Liebe Leserinnen und Leser,
darf ich Sie um ein Gedankenexperiment bitten? Stellen Sie sich vor, am Samstag auf der Demonstration in Kassel wäre Dunja Hayali vom ZDF von gewaltbereiten Demonstranten erst beleidigt, dann bedroht und schließlich geschlagen worden. Was glauben Sie, wie groß das Echo in den Medien gewesen wäre? Man kann dem Gedankenexperiment auf die Sprünge helfen, indem man im Internet nachsieht, wie viele Schlagzeilen es im August 2020 gab, als Hayali auf der großen Querdenken-Demonstration in Berlin beleidigt wurde.

Ich selbst wurde am Samstag von Gegendemonstranten, die wirkten wie aus dem Antifa-Milieu, beleidigt, bedroht und attackiert. Mir wurde die Kamera aus der Hand geschlagen – anzusehen hier: https://www.youtube.com/watch?v=jeedDPuM34A&t=393s
In den großen Medien wurde die Attacke bis auf ganz wenige Ausnahmen einfach totgeschwiegen. Wo von Übergriffen auf Journalisten berichtet wurde, wirkten diese Berichte im Gesamtkontext auf den Leser so, als ob sie von den Maßnahmen-Kritikern ausgegangen wären.
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Vogelfreie Journalisten
Auf der Bundespressekonferenz habe ich auch das Innenministerium heute gefragt, was es zu tun gedenkt, um auf Demonstrationen die Pressefreiheit sicherzustellen. In meinem Fall ist es nicht das erste Mal, dass ich attackiert werde: Die Aggression von Aktivisten aus dem linksradikalen Milieu ist teilweise so stark, dass man nicht mehr normal berichten kann. Die Antwort des Ministeriums war ausgesprochen ausweichend. Zugespitzt könnte man sagen, dass bei gewaltbereiten Radikalen die Botschaft ankommen könnte, dass Journalisten wie ich vogelfrei sind.
So ein Zustand ist untragbar. Und es macht einen ratlos, dass dies offenbar von weiten Teilen der Politik und der Medien einfach ignoriert bzw. toleriert wird. Genauso wie es einen sprachlos macht, dass die Regierung auf kritische Nachfragen zum Lockdown und zu den geplanten Ausgangssperren die Antwort verweigert. Und dies in einer Art und Weise, die ich als Ohrfeige für die Bürger verstehe. Klar – Regierungen drücken sich immer und überall oft um Antworten herum.
Aber sie versuchen zumindest, den Anschein zu wahren, den Bürgern Rechenschaft schuldig zu sein. Wenn sie ganz demonstrativ den gegenteiligen Eindruck erwecken, ist das etwas, was einer Demokratie unwürdig ist. Genauso wie über die Regierung ärgere ich mich in diesem Zusammenhang aber auch über die Menschen, die das einfach hinnehmen. Denn jeder, der völlig überzeugt hinter den Maßnahmen der Regierung steht, sollte sich als Bürger durch dieses Drücken vor Antworten für dumm verkauft fühlen. Aber offenbar haben sich erschreckend viele Bürger daran gewöhnt, behandelt zu werden wie kleine Kinder von einem autoritären Vater, oder in diesem Fall eher von einer autoritären Mutter.
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Demonstration in Kassel
Womit wir bei Kassel wären: Auf der Demonstration wurde mir sehr viel Sympathie entgegengebracht. So sehr ich das menschlich schätze, so sehr ist es für mich als Journalisten problematisch. Denn Sympathie von denen, über die man berichtet, birgt natürlich die Gefahr in sich, dass man bei allem Bestreben, objektiv zu bleiben, doch aufgrund einer Grundstimmung ins Subjektive abrutschen kann. Ich versuche dieser Gefahr nach bestem Wissen und Gewissen zu widerstehen.

Ich habe mir viele Gedanken gemacht, warum so viele Menschen so große Sympathien haben für jemanden, der nach eigenem Empfinden nicht mehr und nicht weniger macht als seinen Job. Also das, was seine Aufgabe ist. Es liegt daran, dass das Grundvertrauen in unsere Institutionen, darunter eben auch die Presse, bei sehr, sehr vielen Menschen sehr gering ist. Und ich kann das bestens verstehen. Es ist ein Alarmsignal für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie

Große Verantwortung
Auch auf die Gefahr hin, Ihnen mit einer Wiederholung auf die Nerven zu gehen – einer meiner Lieblingssprüche ist der von Woody Allen beziehungsweise Mark Twain: „Ich würde nie Mitglied in einem Verein werden, der so heruntergekommen ist, dass er mich als Mitglied aufnimmt.“ Umgemünzt auf meine Situation: Es macht mir Angst, in einem Land zu leben, in dem selbst ich mit meinen eher durchschnittlichen Fähigkeiten schon für einige Menschen zum Hoffnungsträger geworden bin. So sehr mich das menschlich berührt und bewegt, so erschreckend ist es als Diagnose für den Zustand unseres Landes. Und ich sehe es auch als eine riesige Verantwortung. Die ziemlich schwer auf mir lastet. Doch viel schwerer wiegt: Die Unterstützung rettet mich in diesen finsteren Tagen, und ich weiß nicht, wie tief das Loch wäre, in das ich ohne diesen Zuspruch, ohne die vielen Sympathiebekundungen, in diesen verrückten Zeiten gefallen wäre. Ich fürchte, ohne die Rückkopplung mit so vielen bodenständigen, klugen, und vernünftigen Menschen wäre ich an meinem Verstand verzweifelt.

Denn was wir aktuell erleben, erinnert mich an einen der besten Aussprüche des jüdisch-russisch-ukrainischen absurden Humors, den ich in 16 Jahren in Moskau kennen und lieben gelernt habe – und den ich Ihnen noch vor ein paar Jahren nie zugemutet hätte, weil man ihn damals wohl westlich der Ukraine nicht verstanden hätte. Heute, glaube ich, werden Sie ihn verstehen. Leider.
„Ich stehe auf dem Asphalt, und habe meine Ski angeschnallt.
Aber irgendetwas stimmt nicht – die Ski fahren nicht.
Entweder müssen die Ski kaputt sein.
Oder ich habe den Verstand verloren.“
Sie, liebe Leserinnen und Leser, helfen mir jeden Tag, diese Skier des Wahnsinns abzuschnallen

Zwei Gänge zurück schalten
Physisch geht die Belastung derzeit an die Grenze, ja darüber hinaus. Nein, das ist keine Klage. Aber eine Bitte: Sollte ich tatsächlich wider Erwarten in nächster Zeit meinen guten Vorsatz umsetzen können, etwas weniger zu arbeiten, dann glauben Sie bitte nicht, dass dies daran liegt, dass ich den Mut verloren hätte oder einknicken würde. Das ist dann lediglich der Versuch, endlich wieder etwas Freizeit und vor allem etwas mehr Schlaf zu bekommen. Denn schließlich wollen wir ja noch lange Freude am intellektuellen und vor allem auch menschlichen Austausch haben.
In diesem Sinne – ganz herzlichen Dank, dass es Sie gibt!
Herzlich Ihr Boris Reitschuster , 23.2.2021
Ende Wochenbriefing
https://www.reitschuster.de

 

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