Osteuropa-8-Mai-1945

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Blick vom Schauinsland übers neblige St.Wilhelmertal zum Feldberg am 24.1.2020

Blick vom Schauinsland übers neblige St.Wilhelmertal zum Feldberg am 24.1.2020

 

 

 

Der Osten: Eine 75-jährige Geschichte des Vergessens
Kants Kategorischer Imperativ,
Klein-Posemuckel als Sinnbild von Provinzialität,
die von Oskar Troplowitz entwickelte Nivea-Creme,
Königsberger Klopse,
Schmorgurken auf schlesische Art,
Tilsiter Käse,
Rügenwalder Leberwurst,
Echt Stonsdorfer Kräuterlikör,
diverse Kinder- und Weihnachtslieder wie die Vogelhochzeit,
Oh Tannenbaum,
Schneeflöckchen-Weißröckchen oder
Leise rieselt der Schnee
– eine alte Schatzkiste mit spontan zusammengewürfelten Fundsachen, die alle einen gemeinsamen Ursprung haben: im ehemaligen deutschen Osten.

All die seltsamen Namen, die ich als Kind in meiner Umgebung wahrnahm: Sobieraj hieß die Religionslehrerin, Kaczmarek der Tante-Emma-Laden-Besitzer um die Ecke, Piontek der Handwerksmeister im Nachbarhaus, Thomalla die alte Kräuterhexe, die uns mit schwerem östlichen Akzent beschimpfte, wenn wir wieder einmal den Ball über ihren Zaun geschossen hatten. Ich war fasziniert von den Rübezahl-Sagen, die mir als Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen wurden, doch als ich vorschlug, ins Riesengebirge zu fahren, bekam ich nur ein rätselhaftes „Momentan nicht möglich!“ zur Antwort. Viel später fand ich heraus, dass fast die Hälfte meiner Freunde und Bekannten – ob mit oder ohne slawisch klingenden Nachnamen – ihre familiären Wurzeln jenseits von Oder und Neiße hatten, dass aber nur wenige von ihnen Näheres über diese Wurzeln wussten oder sich überhaupt für sie interessierten.

Warum liegt die alte Schatzkiste so tief vergraben? Eine Vermutung: Weil der historische Osten Deutschlands zusammen mit dem Nazireich unterging, wird er nur mit Krieg, Schuld und Leid assoziiert und ist im kollektiven Gedächtnis der heutigen Deutschen hinter einer riesigen Wand aus Verdrängung verschwunden.

Nach Westen!
In zahlreichen Zeitungsartikeln zum 75. Jahrestag des Kriegsendes werden zwar die NS-Menschheitsverbrechen thematisiert, doch der auf dem Fuß folgende Verlust eines Viertels des deutschen Staatsgebietes und die größte ethnische Säuberung der jüngeren europäischen Geschichte (sowie die Installierung eines weiteren Viertels Deutschlands als sowjetischer Satellitenstaat) völlig ignoriert, was den Eindruck erweckt, als hätten die Deutschen den verlorenen Krieg eigentlich glimpflich überstanden und als wäre ihr Hauptproblem in den vergangenen Jahrzehnten nur ein mentales gewesen: endlich einzusehen, dass der 8. Mai 1945 auch für sie ein reiner „Tag der Befreiung“ gewesen sei. Das ist eine stark „westbezogene“ Sichtweise, die sich ihrer Schlagseite nicht einmal bewusst ist.

Denn 1945 ging zusammen mit dem Dritten Reich auch der Osten Deutschlands unter, in einer Apokalypse biblischen Ausmaßes: Das Land wurde in weiten Teilen verwüstet, seine Bewohner – soweit sie nicht vorher geflüchtet oder umgekommen waren – vertrieben, seine Geschichte von den Siegern ausgelöscht. Dies festzustellen, ist keine „Aufrechnung“ oder „Relativierung“, sondern beschreibt schlicht die Tatsachen, die allerdings nur in der Abfolge von Ursache und Wirkung verständlich werden: Der Vernichtungskrieg, den Hitlerdeutschland in Osteuropa geführt hatte, schlug mit Wucht auf seinen Urheber zurück; dabei musste der Osten für ganz Deutschland büßen. Dass dies verdrängt, vergessen oder ignoriert wird, ändert nichts an der historischen Wahrheit.

Der Kampf um die Seelower Höhen im April 1945 sei die blutigste Schlacht gewesen, „die je auf deutschem Boden ausgetragen wurde“, heißt es in verschiedenen Publikationen, wie auch von der dortigen Gedenkstätte. Von 100.000 Gefallenen ist dort die Rede. Doch schon ab Januar 1945 rückte die Rote Armee über den damaligen Osten Deutschlands vor, trieb die panisch flüchtende Zivilbevölkerung vor sich her und zerrieb ihre Angriffsspitzen an zwar weit unterlegenen, aber dennoch meist bis zum Schluss kämpfenden Verbänden von Wehrmacht, Waffen-SS und Volkssturm. Viele der Schlachten hier – ob um Ostpreußen und Königsberg, der Kampf um Hinterpommern, Ober- und Niederschlesien oder die Belagerung Breslaus – forderten teilweise deutlich mehr Opfer als der Kampf auf den Seelower Höhen. Allein im Kampf um Breslau starben 170.000 Zivilisten, 6.200 deutsche und 13.000 sowjetische Soldaten. Mit der Ausblendung der ehemaligen deutschen Ostgebiete aus dem kollektiven Gedächtnis werden auch diese Opfer ausgeblendet, zu denen neben Hunderttausenden deutscher und sowjetischer Soldaten mindestens eine halbe Million deutscher Zivilisten zählen.

Vor der sowjetischen „Walze“ flüchtete alles, was Beine hatte. Nach ersten Gräueltaten durch Rotarmisten an der ostpreußischen Zivilbevölkerung, die von der NS-Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurden, flohen Millionen Menschen in den letzten noch fahrenden Zügen, auf Ostseeschiffen, in Pferdewagen und zu Fuß, immer nur in eine Richtung: so weit wie möglich nach Westen, die sowjetischen Panzer immer im Nacken. Bis sie endlich dort anlangten, wo Amerikaner und Briten stehengeblieben waren. Die späteren Westzonen bildeten das Hauptsammelbecken für die Versprengten, Geflüchteten und Vertriebenen des untergegangenen Reiches – insgesamt etwa 15 Millionen –, mit denen die eingesessene Bevölkerung fortan zusammenleben musste. Manche der neugegründeten Bundesländer – etwa Schleswig-Holstein – verdoppelten nahezu ihre Einwohnerzahl.

Diese 15 Millionen waren die ersten „Gastarbeiter“ der jungen Bundesrepublik (und in geringerem Maße auch der DDR). Als (zwangsläufig) fleißige, bescheidene und billige Arbeitskräfte trugen sie maßgeblich zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder bei, ohne dass auch nur ein Hahn danach gekräht hätte, welchen Diskriminierungen, Ausgrenzungen oder Ressentiments („Polacken!“) sie ausgesetzt waren.

Die 1949 gegründete Bundesrepublik erhob offiziell zwar den Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland (zunächst noch in den Grenzen von 1937), doch ihre Menschen wollten verständlicherweise neu anfangen, nach vorn schauen, nicht mehr zurück. Die Verdrängung der Vergangenheit war gewissermaßen konstitutiv. Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“ bezog sich nicht nur auf eine etwaige Mitschuld an den Naziverbrechen, die erst allmählich in ihrer ganzen Monstrosität ins allgemeine Bewusstsein drangen, sondern auch auf das erlittene eigene Leid. Beides zusammen bildete den Kloß in der Kehle der letzten Kriegsgeneration und war verantwortlich für ihr bleiernes Schweigen.

Der Verlust des Ostens
Mit der neuen Grenzziehung an Oder und Lausitzer Neiße wurde die Zeit sozusagen um neunhundert Jahre zurückgedreht, zu den Anfängen deutscher wie polnischer Staatlichkeit, als etwa in derselben Region Piasten- und Ottonenreich aneinandergrenzten. So wurden im Ergebnis des von Hitler entfachten Krieges viele Jahrhunderte wechselvoller gemeinsamer Geschichte von Deutschen und Polen ausgelöscht. Dabei war die Abtrennung des deutschen Ostens mitnichten eine „gerechte Strafe“ für Vernichtungskrieg und Holocaust, sondern entsprang vor allem geostrategischen Überlegungen. Übrigens blieb möglicherweise nur wegen der Vertreibung im Osten Millionen von Westdeutschen zwischen Wilhelmshaven und Aachen ein ähnliches Schicksal erspart, denn gewichtige holländische Stimmen forderten als Wiedergutmachung auch die Annexion großer Teile Nordwestdeutschlands.

Da die Sowjetunion den 1939 gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt annektierten östlichen Teil Polens nicht zurückgeben wollte, sollte der neue polnische Staat im Westen auf Kosten Deutschlands entschädigt werden. Dass dies nicht nur bis zur Glatzer Neiße mitten in Schlesien, sondern noch einmal zweihundert Kilometer weiter westlich geschah, hatte mit der Unwissenheit und Nachgiebigkeit der Westalliierten zu tun und entsprach den Maximalforderungen polnischer Nationalisten, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die kürzest mögliche Grenzlinie zwischen Ostsee und Sudeten verlangt hatten. Als Draufgabe gab es auch noch die eigentlich westlich der Oder gelegene Hafenstadt Stettin, die bis in den Sommer 1945 hinein von deutschen Kommunisten verwaltet wurde. Stalins Kalkül war es, durch die neue Grenze ewige Feindschaft zwischen Deutschen und Polen zu säen und auf diese Weise den unsicheren Kantonisten Polen an sich zu binden. Formal betrachtet, blieb jedoch die endgültige Festlegung der deutschen Ostgrenze einem zukünftigen Friedensvertrag vorbehalten.

Während die kommunistischen Behörden in der weit nach Westen verschobenen Volksrepublik Polen verbliebene sowie nach Kriegsende zurückgekehrte Deutsche aussiedelten (bis auf Oberschlesier und Masuren, die als „zwangsgermanisierte“ Autochthone zum Teil bleiben durften) und alles daran setzten, sämtliche Spuren der deutschen Vergangenheit in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ auszumerzen, hielten in der Bundesrepublik Politiker Sonntagsreden für die Vertriebenen, so lange sie als Wähler interessant waren. Im Zuge der neuen Ostpolitik der siebziger Jahre galten ihre Verbände wegen ihres Festhaltens an der verlorenen Heimat mehr und mehr als Störenfriede und Ewiggestrige, bis sie schließlich jede gesellschaftliche Bedeutung verloren

Die Westbindung der Bundesrepublik, die Joschka Fischer in seiner Bilanz der 75 Jahre seit Kriegsende als historische Errungenschaft beschwört, weil sie Deutschland von seiner Mittellage erlöst habe, mit der es angeblich „nie umgehen konnte“, trug dazu bei, dass der westliche Teilstaat dem Osten den Rücken zukehrte, und zwar nicht nur den verlorenen Ostgebieten, sondern – je länger die deutsche Teilung andauerte – auch dem historischen Mitteldeutschland als neuem „Osten“. Und da sich die DDR in ihrem Bemühen um Abgrenzung von der BRD mittlerweile zur eigenständigen „sozialistischen Nation“ erklärt hatte, betrachteten viele Bundesbürger nun eben allein die Bundesrepublik als „Deutschland“.

Als die beiden deutschen Staaten 1990 wiedervereinigt wurden, war die endgültige Entscheidung über den Status der ehemaligen Ostgebiete nur noch Formsache. Bei den 2+4-Verhandlungen erkannte Deutschland die Oder-Neiße-Linie offiziell als seine Ostgrenze an. Abgehakt und erledigt. Warum also können wir die alte Kiste – zumal im Zeitalter einer grenzenlosen Europäischen Union – nicht lassen, wo sie ist: im Orkus der Geschichte, tief vergraben im kollektiven Unbewussten der Deutschen?
Die Wiederkehr des Verdrängten
Eine Gruppe 15-jähriger Berliner Schüler im Austausch mit gleichaltrigen Polen in Masuren. Letztere fangen abends beim gemeinsamen Lagerfeuer an zu singen, erst polnische Lieder, dann sogar zwei extra einstudierte deutsche Volkslieder. Danach fordern sie ihre Berliner Altersgenossen auf, es ihnen nachzutun. Die Reaktion ist Schweigen. Peinlich berührt starren die Schüler mitsamt ihren beiden Lehrern ins Feuer. Niemand kennt irgendein deutsches Lied. Der gemütliche Abend geht schnell zu Ende, Deutsche und Polen werden nicht warm miteinander.

Auf einer Fete erzählt eine Frau von ihren multikulturellen Wurzeln. Sie sei auf keinen Fall „rein deutsch“, denn ihre Großeltern stammten aus „Wrotzlaff“ (eigentlich Wrocław, aber im Bemühen, deutsche Ortsnamen zu meiden, nehmen viele Deutsche leider gar keine Rücksicht auf die polnische Sprache). „Meinst du Breslau?“, frage ich. „Nein, Wrotzlaff!“ – „Haben sie denn Polnisch gesprochen?“ – „Polnisch?“, überlegt die Frau. „Ich glaube nicht.“

Ein alter Mann reist per Bus mit einer Touristengruppe nach Danzig. Als sie am Frischen Haff Pause machen, sinniert er über die Flüchtlingstrecks, die hier im Januar 1945 ins Eis einbrachen. „So viele sind umgekommen…“ Ein Jüngerer zuckt die Achseln: „Dann hätten sie eben nicht alle Hitler wählen dürfen!“

Was haben diese sämtlich nach 2004 – dem Jahr von Polens EU-Beitritt – datierten Situationen, denen ich aus eigenem Erleben Dutzende ähnliche hinzufügen könnte, gemeinsam? Eine erschütternde Unkenntnis der deutschen Geschichte wie auch der eigenen Familiengeschichte. Ein radikales Abgeschnittensein von den eigenen Traditionen und Bräuchen. Das krampfhafte Bemühen, sich „korrekt“ auszudrücken und zu verhalten. Und eine totale Empathielosigkeit, wenn es um das Leid von angeblichen „Nazis“ geht. Neudeutsche Entmenschlichung.

„Deutsche Täter sind keine Opfer!“ Mit dieser dumpfen Totschlag-Parole brüllen linke Gruppen regelmäßig das Gedenken an Opfer des Bombenkrieges nieder oder stören Wiedersehenstreffen der allerletzten noch lebenden Vertriebenen. Wie bequem ist so ein schablonenhaftes Schwarz-Weiß-Denken, wie geschichtsvergessen, gefühl- und geistlos! Waren die Alten, Mütter und Kinder, die auf der Flucht erfroren oder von Panzern überrollt wurden, wirklich alle „Täter“ und hatten „Hitler gewählt“? Muss 75 Jahre nach Kriegsende das Unrecht, das Deutschen infolge der in deutschem Namen begangenen NS-Verbrechen zugefügt wurde, immer noch krampfhaft beschwiegen werden, aus Angst, die Wahrheit könnte von den „Falschen“ – von Neonazis, Rechtspopulisten, der AfD – instrumentalisiert werden? Wieviel Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung spricht aus einer solchen Angst, wieviel Unsicherheit sich selbst gegenüber?

Ignoranz und Kaltherzigkeit
Im Übrigen waren hunderttausende von Deutschen aus dem Baltikum, Bessarabien und anderen Regionen Osteuropas, die Hitler gar nicht gewählt haben können und nach dem Hitler-Stalin-Pakt bereits 1940 kollektiv ihrer angestammten Heimat entrissen und ins besetzte Polen umgesiedelt wurden, ebenso Opfer der NS-Volkstumspolitik wie andere ethnische Gruppen. Und die Wolgadeutschen, die immerhin eine autonome Sowjetrepublik bewohnten, wurden 1941 von Stalin kollektiv der Kollaboration bezichtigt und in Güterzügen nach Kasachstan und Sibirien deportiert, von wo sie nach 1989 mehrheitlich als Spätaussiedler in die Bundesrepublik kamen – sehr zum Missfallen vieler dortiger Linker, die diese Art von Migranten wegen ihrer „Spießigkeit“ und „Heimatverbundenheit“ ablehnten. Auch alles deutsche „Täter“?

Die verbreitete Ignoranz und Kaltherzigkeit denen gegenüber, die stellvertretend für das ganze Land die NS-Verbrechen gebüßt und dabei ihre Heimat oder gar ihr Leben verloren haben, ist nur in den psychologischen Kategorien von Projektion und Verdrängung zu erklären.
Eine als Kleinkind aus Schlesien vertriebene pensionierte Lehrerin, die sich in einem zwielichtigen Verein für die Rechte der Palästinenser engagiert, aber fuchsteufelswild reagiert, als sie gefragt wird, ob ihr Engagement etwas mit der eigenen Kindheit zu tun haben könnte. Dieser übereifrige Einsatz für die „vertriebenen“ Palästinenser, deren Vertriebenenstatus sich von Generation zu Generation weitervererbt und deren Nachkommen auch noch 74 Jahre nach der Gründung des Staates Israel in provisorischen Lagern hausen und sich von Extremisten instrumentalisieren lassen. Die pauschale Umetikettierung von Wirtschaftsmigranten aus aller Welt zu „Flüchtlingen“ durch deutsche Politiker und Journalisten, wider besseres Wissen, aber offenbar getrieben von einem tiefen inneren Bedürfnis.

Kompensiert das überbordende Mitleiden mit wildfremden Menschen aus fernen Kulturen die Unfähigkeit, um das verlorene Eigene zu trauern? Verbirgt sich dahinter die „Wiederkehr des Verdrängten“? Der Autor und Maler Raymond Unger, der sich in seinen Büchern mit den „transgenerationalen Traumata der Kriegsenkel“ beschäftigt, stellt die These auf, große Teile der Baby-Boomer-Generation, die heute in Deutschland den Ton angibt, seien aufgrund der „Nicht-Wahrnehmung des eigenen Schattens“ nicht erwachsen geworden, sondern verharrten im Zustand einer „moralistischen Infantilisierung“. Eine These, die kaum zu entkräften ist.
„Schläft ein Lied in allen Dingen“
„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“, dichtete der Oberschlesier Eichendorff, der übrigens auch fließend Polnisch sprach. Wie lautet das Zauberwort? Vielleicht „Erinnerung“. Vorausgesetzt, das Erinnern ist vollständig und wird nicht aus ideologischen Gründen selektiv eingeschränkt.

Um ein chronisch unbewältigtes Trauma verarbeiten zu können, muss man sich zunächst einmal den Verlust bewusst machen, ihn betrauern können. Was wir als Deutsche (kollektiv) verloren haben, sind nicht nur besondere „Volksstämme“ und Dialekte, Landstriche sowie materielle und kulturelle Güter, sondern auch sprachlich-kulturelle Nachbarschaften, die alltägliche Begegnung mit Polen, Litauern (an die heute noch Familiennamen wie Wowereit, Theweleit, Kurbjuweit etc. erinnern) und Tschechen. Deren jahrhundertelange Symbiose mit den Deutschsprachigen Böhmens und Mährens wurde 1945 ebenfalls gewaltsam beendet. Nein, auch diese waren natürlich nicht alle „Täter“, wie etwa das Beispiel der sudetendeutschen Sozialdemokraten zeigt, die von Anfang an im Widerstand gegen die Nazis gestanden hatten, aber trotzdem vertrieben wurden.

Wenn wir dem Osten weiterhin den Rücken zukehren, werden wir auch geistige Werte verlieren, wichtige Teile unserer Geschichte: die der Kreuzritter im Pruzzenland, die keineswegs so einseitig düster ist, wie sie früher aus polnischer Sicht dargestellt wurde; die der deutschen Ostsiedlung, deren Verlauf zur Vermischung der oft von polnischen Fürsten ins Land gerufenen westfälischen, fränkischen oder holländischen Siedler mit den ansässigen Slawen und zur Gründung vieler Städte nach Magdeburger Recht führte; der Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht, die für damalige Maßstäbe fortschrittlich und tolerant gegenüber Minderheiten war, nicht denkbar ohne Königsberg oder die schillernde Persönlichkeit Friedrichs des Großen; das Breslau der Befreiungskriege oder das der modernen Architektur in der Weimarer Republik; nicht zuletzt die Adligen vom „Kreisauer Kreis“, die ihren Widerstand aus Gewissensgründen gegen Hitler mit dem Leben bezahlten. Dies alles und noch viel mehr findet sich in der alten Schatzkiste.

Die gewaltsame Verwandlung von deutschem in polnischen und russischen Boden und die damit verbundene Odyssee von Millionen Menschen hat unzählige Geschichten hervorgebracht, die ein extremes Spektrum menschlicher Erfahrungen abdecken, von unbeschreiblicher Grausamkeit und Tragik bis zu unverhofft erfahrener Hilfe und Mitmenschlichkeit, von lebenslanger Sehnsucht und Heimweh bis hin zu kraftvoll bewältigten Neuanfängen. Darunter sind sogar märchenhafte Romanzen wie die zwischen einer deutschen Fabrikantentochter und einem polnischen Neusiedler.

Mehr Neugier für die Wurzeln?
Die meisten dieser Geschichten wurden nur im Familienkreis weitergegeben. Deshalb gibt es, abgesehen von Werken der Nachkriegsliteratur, in denen Autoren den Verlust ihrer Heimat verarbeiteten (Grass, Lenz, Surminski, Leonie Ossowski u.a.) nur wenige gute Romane („Altes Land“ von Dörte Hansen) oder Filme (der TV-Zweiteiler „Die Flucht“), die Schätze aus der alten Kiste gehoben haben. Was für ein weites Feld, welch reichhaltige Stoffe böten sich heutigen Künstlern und Autoren, wenn sie ein wenig Interesse und Neugier aufbrächten.

Etwa für die Übergangszeit 1945 bis 1948, als Neusiedler – teils aus dem zerstörten Zentralpolen, teils aus den von der Sowjetunion annektierten Gebieten – in den „Wilden Westen“ kamen und sich die Häuser mit verbliebenen Deutschen teilen mussten, die erst nach und nach ausgesiedelt wurden, weil die Behörden sie noch als Fachkräfte benötigten.

Oder auch für mehr als drei Millionen Menschen im heutigen Deutschland, die in der Öffentlichkeit – ganz im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen – nur ein äußerst stiefmütterliches Dasein fristet: die Spätaussiedler aus Polen, Rumänien, Russland, der Ukraine oder Kasachstan. Was hätten diese Menschen für aufregende Geschichten über die von ihnen erlebten Schicksale zu erzählen!

Als nach 1989 die Kommunisten in Ostmittel- und Osteuropa nicht nur mit ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, sondern auch mit dem Versuch gescheitert waren, Geschichte durch Sprach- und Denkverbote umzuschreiben, als in Nord- und Westpolen die Angst vor einer Rückkehr der Deutschen abgeklungen war und die Menschen sich sicher und heimisch fühlten, entfaltete sich dort ein doppeltes Interesse: erstens an den eigenen Wurzeln, die ebenfalls oft weit im Osten liegen. Endlich konnten die Nachkommen der Zuzügler wieder öffentlich die Erinnerung an ihre eigene verlorene Heimat in Lemberg oder Wilna pflegen.
Zweitens an denen, die vor ihnen das Land geprägt hatten. Die neuen Bewohner öffneten die alte Schatzkiste und versöhnten sich mit der Vergangenheit. Schüler erforschen die Geschichte ihrer Heimatorte. Im ostpreußischen Allenstein/ Olsztyn wurde die Borussia – Stiftung und Kulturgemeinschaft gegründet. Polnische Schriftsteller schreiben erfolgreiche Krimi-Serien mit Protagonisten aus dem Vorkriegs-Breslau. Längst werden Architekturdenkmäler nicht mehr abgerissen, alte Inschriften nicht mehr weggemeißelt, sondern restauriert. Persönlichkeiten, die sich um ihre alte Heimat verdient gemacht haben, werden Ehrenbürgerschaften verliehen, Straßen und Plätze nach ihnen benannt. Einige der Vertriebenen sind sogar als Rentner zurückgekehrt, haben Polnisch gelernt und leben freundschaftlich mit ihren Nachbarn.
Wenn auch wir Deutsche uns das Gestern wieder erschlössen, würden sich Herz und Sinne vielleicht auch mehr für das Heute öffnen, für Szczecin, Wroclaw, Gdansk und Kaliningrad und ihre jetzigen Bewohner. Dann könnten wir vielleicht auch den letzten Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung, die damals Kinder waren und heute im Greisenalter sind, 75 Jahre nach Ende des Krieges den Respekt und die Aufmerksamkeit erweisen, die sie verdient haben.
… Alles vom 8.5.2020 von Oliver Zimski bitte lesen auf
https://www.achgut.com/artikel/der_osten_eine_75_jaehrige_geschichte_des_vergessens
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Oliver Zimski ist Übersetzer, Sozialarbeiter und Autor.
2015 erschien sein Kriminalroman „Wiosna – tödlicher Frühling“.
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Einige Kommentare:
Bravo!
Meine 24 jährige Tochter gehört natürlich zur Generation “Deutsche Geschichte besteht zu 100 % aus der NS Zeit” Sie wird diesen famosen Artikel lesen.
8.5.2020, M.K., AO
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Schwer, aber auch heiter
Bin 1960 geboren – und die letzten Verbindungen in den Osten sind schon lange her. Aber dieser Text – puh – der ist schwer … und doch zugleich auch heiter.
Schwer – weil so vieles an Geschichte_n einfach verloren ist.
Heiter – weil Geschichte immer dazu da ist, entdeckt und gelebt zu werden – von wem auch immer.
8.5.2020, V.G.

Wir sollten die Opfer unseres eigenen Landes und Volkes nicht vergessen
– die Gefallenen, die Vergewaltigten, die Deportierten, die Kriegsgefangenen, die Heimat-Vertriebenen, die Opfer der Bomben-Nächte, die Verbrannten, die Kriegs-Versehrten, die Verwaisten, die Allein-Gebliebenen und Vereinsamten. Sie alle bezahlten die ‘deutsche Schuld’ – nicht ‘die’ Nazis! Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte in seiner wichtigen Rede am 8. Mai 1985 auch ausgeführt: ‘… niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit der Befreiung erst begannen und danach folgten. …’.
Heute, 35 Jahre nach dieser Rede, muß leider festgestellt werden, daß dieses VERSPRECHEN – insbesondere mit Blick auf deutschlandweit Hundertausende vergewaltigte Frauen und Mädchen – gebrochen worden ist! Es muß möglich sein, angemessen und in ‘sensibler Sprache’, welche dem Ernst dieses Themas verpflichtet ist, an das Leid dieser Menschen zu erinnern.
Es muß möglich sein, daß das Versprechen von Weizsäckers endlich ernsthaft und glaubhaft und viel zu spät einzulöst wird! 16, 18 bzw. 21 jährige firmieren im heutigen Soziologen-Deutsch unter ‘Heranwachsende’, ‘Jugendliche’ und ‘junge Menschen’. Den damals Gefallenen gleichen Alters werden in unserem Land Gesten des Respekts und der Trauer VERWEIGERT.
Im Gegenteil – man ‘greift ihnen mit geilen Späßen an die Ehre’. Gleiches gilt für die Trümmerfrauen! Die Schändung ihres Münchener Denkmals durch die charakterlich deformierte gruene Spitzenpoliterin Katharina Schulze (Bayern) ist dafür nur ein perfides (und menschlich besonders abstoßendes) Beispiel.
Die Überlebenden sexualisierter Gewalt haben ‘niemals irgendeine Form von Unterstützung, Entschädigung oder Gerechtigkeit erfahren’! (Zitat Frau Dr. Monika Hauser; Gynäkologin und Sprecherin der Frauenrechts-Organisation Mediaca Mondiale). Muß das Wort vom ‘Tag der Befreiung’ in ihren Ohren nicht wie Hohn klingen?
8.5.2020, W.D., AO
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Sehr geehrter Herr Zimski, haben Sie herzlichen Dank für Ihren heutigen Artikel!
Sie haben damit eine Tür bei mir aufgestoßen, die bereits einen Spalt breit offen war. Meine Mutter ist im Februar 1945 mit einem der letzten Züge aus Oberschlesien abgereist- mit meiner Schwester, die 5 Jahre alt war- und zwei Koffern. Unser Vater war im Russlandfeldzug verschollen- er kam 1949 aus einem Kriegsgefangenenlager in Tiflis zurück. ich wurde 1953 im Westen geboren- ich erinnere mich an all die Lieder, die Sie erwähnen, an Rübezahl und das Steiger-Lied. Die Familie war auseinander gerissen, viele meiner Verwandten kenne ich nicht. Dort, wo ich geboren wurde, wuchs ich mit dem Gefühl auf : “wir gehören nicht hierher”. Meine Eltern hatten den etwas harten Akzent der Oberschlesier, und den Dialekt meiner Geburtsstadt habe ich nie gelernt. Erst jetzt, so ganz allmählich- und verstärkt durch Ihren Artikel- wird mir bewußt, wieviel Schmerz in diesem Familienschicksal liegt. Eichendorff war und ist einer meiner Lieblingsdichter- “Aus der Heimat hinter den Blitzen rot”… Ich wohne jetzt in Dresden und seltsam- das fühlt sich wie “zu Hause” an. Ich danke Ihnen sehr!
8.5.2020, A.K.K.
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Gemeinsame Sprache und literarische Schätze reichen nicht aus.
Dieses Land, vor 150 Jahren in eine – wie die Geschichte gelehrt hat – äusserst fragile und offenbar gegen seine von alters überkommene Natur stehende Einheitsform gegossen, kann mit sich vermutlich genau deshalb nicht ins Reine kommen. Das zweite Reich war ein unruhiger Traum, das dritte ein Albtraum, die alte Bundesrepublik eine auf merkwürdige Weise (und durch gewaltige Besatzungskontingente) stillgestellte Zeit und nun, da der Druck gewichen ist, wird offenbar, dass Restdeutschland als Nationalstaat sich nicht mehr erhalten kann: es möchte ein internationaler Standort von vielen sein und in der imaginierten Weltgemeinschaft gleicher Produzenten und Konsumenten auf- und vergehen. Vielleicht sollten wir diesen geheimen Wunsch respektieren.
8.5.2020, K.D.
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Exzellenter Artikel!
Die Barbarei in den ehemals preußisch-deutschen Ostprovinzen übertraf in der Wirklichkeit die Goebbelssche Propaganda um ein Vielfaches. Wer zur Befreiung durch die Rote Armee mehr wissen will und starke Nerven mitbringt, lese die dreibändige Ausgabe: „Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neisse“, herausgegeben vom ehemaligen Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, ISBN: 3893505474, Erscheinungsjahr 1995. Wohl noch billig gebraucht bei Amazon zu haben. Wenn ich mich recht entsinne, ging die umfangreiche Dokumentation auf eine Initiative Helmut Kohls zurück. Die monokausale Erklärung für derart archaische Untaten, nämlich verständliche Vergeltung für selbst erduldetes Leid, greift kurz. Wer die Barbarei im Osten auf schlichte Rachsucht reduziert, weiß wenig vom besonderen Zustand der Roten Armee. Von polnischen Truppen, die mit der Roten Armee nach Westen vorrückten, sind systematisch kollektiv begangene Verbrechen nicht überliefert, Gründe um Rache zu nehmen hätte es genug gegeben. Die Gräuel begrenzten sich auch nicht auf deutsches Ostterritorium, sondern nahmen bereits in Polen ihren Anfang. Tito entsandte seinen Berater Milojan Djilas nach Moskau, weil er die Entsetzlichkeiten der Roten Armee nicht mehr ertrug, was Stalin wenig interessierte. Selbst befreite sowjetische Zwangsarbeiter, der Prototyp war weiblich und minderjährig, fanden keine Gnade.
8.5.2020, D.R.
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Über den Verlust der Heimat im Osten zu trauern war zu keiner Zeit opportun.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit hielt man tunlichst den Mund, um die “Gastgeber” nicht zu verärgern, danach wollte man nicht mehr zugeben, in Behelfsbaracken gewohnt zu haben (wie ehemals Bundespräsident Horst Köhler), danach bemühte man sich, es mit einer guten Ausbildung zu etwas zu bringen … und nun ist alles auf einem tiefen Meeresgrund verschlossen und darf nicht hervorgeholt werden. Noch dazu hat die linke Meinungsführerschaft überhaupt kein Interesse daran, eine wie auch immer geartete “Identität” zuzulassen. Keine Lieder, keine Fahne, keine Geschichte, Literatur nur, was ins Bild passt, Eichendorff gehört bestimmt nicht dazu, wenn überhaupt, dann Expressionismus. Bloß nichts Tröstliches, nichts Schönes, keine Romantik, nicht mal Heinrich Heine. Diese Lücke füllt nun gesichtsloser, linker Kitsch von Konstantin Wecker, Herbert Grönemeyer und Bettina Wegner. Und künftig dann der Koran als neue Identität.
8.5.2020, Claudia M.
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… wo Europas Ostgrenze liege: „An Oder und Neiße
Zitat: „Was haben diese sämtlich nach 2004 – dem Jahr von Polens EU-Beitritt – datierten Situationen, denen ich aus eigenem Erleben Dutzende ähnliche hinzufügen könnte, gemeinsam?“ – Daß es noch schlimmer geht: Eine „Studienstiftlerin“ (also eine Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, *der* Förderungsinstitution für begabte Studenten) etwa im Jahr 2000 (zehn Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs!) auf die Frage, wo Europas Ostgrenze liege: „An Oder und Neiße.“ Natürlich kam sie aus Westdeutschland. – Neben den Millionen von Menschenopfern, die Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa zu verantworten haben, werfe ich ihnen dieses Verbrechen vor: Daß sie in ihrem Wahn, den Neuen Menschen zu schaffen, das Verständnis für zwei (mindestens zwei, ich lasse mich gern belehren) europäische Kulturräume zerstört haben – den baltischen und den, ich würde sagen, böhmisch-pannonisch-sarmatischen.
Für Einzelheiten fehlt hier leider der Platz und mir die Zeit, so daß ich mich auf das Empfehlen weniger bekannter Literatur beschränke: Johannes Bobrowski, v. a. “Lewins Mühle”, “Litauische Claviere” und “Mäusefest”; Marianne Peyinghaus, “Stille Jahre in Gertlauken”; Christan Graf v. Krockow, “Die Reise nach Pommern” und “Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema” (in der dtv-Ausgabe v. a. Frl. Grambkau, S. 34 f.); Günter de Bruyn, “Herr Müller, diesseits und jenseits der Oder” von 1980 (in “Babylon. Erzählungen”, m. W. nur in der West-Ausgabe); Roda Roda, Joseph Roth, Soma Morgenstern. Von der großen polnischen Literatur ganz zu schweigen und den großen Russen sowieso – also nur noch eins: Swetlana Geier, “Ein Leben zwischen den Sprachen”. Damit wirklich zum Schluß: Entgegen anderslautenden Gerüchten fällt nicht von der Erdscheibe, wer in Görlitz, Frankfurt oder Küstrin-Kietz nach Osten fährt. Danke, Herr Zimski, daß Sie so deutlich darauf hingewiesen haben.
8.5.2020, J.M.
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Das westliche Nachkriegsdeutschland läuterte sich durch den Duft der großen weiten Welt,
durch Coca Cola und Cowboyzigaretten, bis die Alt-68er ihren Marsch durch die Institutionen vollendeten, Brüssler und Bonner Spitzenpositionen besetzten und dort Turnschuhe, Schmuddelhaare und den Dreitagebart salonfähig machten. – Die Polen und die Tschechen kamen in unserem Weltbild von Adenauer bis Kohl nicht vor. Woran also anknüpfen? Richtig: an das uralte Narrativ vom Untermenschen und Schnorrer, der nur abkassieren will, aber nicht für unsere geschenkten Menschen zahlen möchte. Der sich erdreistet, uns europatrunkenen Übermenschen nicht die Stiefel zu lecken, mit denen wir regelmäßig nach Osten treten. Also Antisemitismus bloß ohne Juden. – Der Deutsche kennt nur Oben und Unten, Richtig und Falsch, Gut und Böse; ein gleichberechtigtes Miteinander eigenständiger nationaler Befindlichkeiten ist ihm nicht begreiflich. Doch eher Richter und Henker?
8.5.2020, W.K.
Ende der Kommentare
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Zwei Leserzuschriften zum 8. Mai als Feiertag „Tag der Befreiung“
„Den Übergang von einem Terrorregime zum anderen und damit verbunden zu Massenvergewaltigungen, zu Vertreibungen von Millionen Menschen aus ihrer Heimat, zu organisierter Verschleppung von unzähligen unschuldigen Menschen in die sowjetischen Gulags sowie zu Mord und Terror in den von den Sowjets übernommenen Konzentrationslagern gegen Sozialdemokraten, Christen und Menschen, die den neuen Machthabern kritisch gegenüberstanden, als Befreiung zu deklarieren und sich das Vokabular der kommunistischen Verbrecher zu eigen zu machen, ist empathielos und an Zynismus kaum zu überbieten. Wie befreit mögen sich wohl Menschen fühlen, die aus heißem Öl genommen und in kochendes Wasser geworfen werden? Ebenso pervers ist es übrigens, die Verbrechen Stalins mit denen Hitlers zu rechtfertigen.“
Und:
„Mich würden Selbstanklagen im Prinzip gar nicht stören. Sie gehören zum Leben jedes denkenden Menschen dazu. Sofern sie auf dem Boden von Vernunft, Maß und Fakten stehen. Das tun sie normalerweise, so lange die ehrliche Motivation dieser Selbstanklagen darin besteht, das eigene Tun richtig einzuschätzen und für die Zukunft gegebenenfalls zu verbessern. Das Widerwärtige an unseren deutschen Selbstanklagen, besser: den Selbstanklägern, besteht aber gerade darin, dass sie sich eben nicht selbst anklagen, sondern sich im Gegenteil durch diese Klagen selbst erhöhen und von den anderen abheben wollen. Es sind ja gar keine Selbstanklagen, sondern die scheinbare Selbstanklage dient der eigenen Exkulpierung und der Behauptung, ein besserer Mensch als die angeklagten anderen zu sein.
Die ‚Selbstanklage‘ ist in Deutschland eine pervertierte Form des Pharisäertums.“
… Alles vom 8.5.2020 bitte lesen auf
https://michael-klonovsky.de/acta-diurna

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Klonovsky: Zum Vorschlag, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Feiertag zu deklarieren
Zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation wird wieder der Vorschlag laut, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Feiertag zu deklarieren, was er im fortschrittlicheren Deutschland bekanntlich längst war. Ich möchte keinem einzigen NS-Opfer zu nahe treten, aber allen anderen, die mit diesem erpresserischen Vorschlag daherkommen, desto mehr.
Der 8. Mai ist ein durch und durch ambivalentes Datum; mit den Worten von Theodor Heuss war Deutschland damals „erlöst und vernichtet“ zugleich, und wer nur der Erlösten gedenkt, verhöhnt die Vernichteten. Nicht nur das mörderische NS-Regime fuhr zur Hölle, sondern Deutschland wurde sowohl als eigenständiger Staat als auch buchstäblich zerschlagen. Es gab Millionen Deutsche, die befreit, aber eben auch Millionen, die nicht befreit wurden.
Ich habe mehrfach darüber geschrieben (etwa hier
https://michael-klonovsky.de/artikel/item/86-qflachshaarige-hexenq
oder hier
https://michael-klonovsky.de/artikel/item/49-preuen-zahlt-die-zeche).
und halte die Idee, die Eroberung Osteuropas und Mitteldeutschlands durch Stalins Terrorsystem als „Befreiung“ zu feiern, für pervers. Hier tritt eine Mentalität zutage, die keinerlei Differenz mehr erträgt und eine Exkulpation des Kommunismus in den Kauf nimmt, um Deutschland geschichtspolitisch zu erledigen. Denn darauf läuft es hinaus:
Mit der Nobilitierung des Sieges der Alliierten zum Nationalfeiertag würde praktisch jede Verbindung zum Deutschland vor Hitler durchtrennt. Man würde außerdem Abertausende vertriebene, ermordete, vergewaltigte und ausgebombte Zivilisten zur Quantité négligeable erklären und buchstäblich auf Gräbern von Kindern feiern. Jede Empathie gegenüber den Opfern der Sieger, sofern sie zum Einspruch gegen eine solche selektive Gedenklogik führte, würde aber als NS-„Relativierung“ (was immer das sein soll) und in nächster Stufe als NS-Sympathisantentum stigmatisiert und kriminalisiert. Es wäre der ultimative Triumph Kreons über Antigone bei gleichzeitiger Exkommunikationsdrohung gegen Sophokles. Es wäre eine Art historischer Selbstmord, eine Rückkehr in die DDR.
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Im Übrigen kamen weder die Sowjets noch die Amerikaner oder die Briten seinerzeit auf den Gedanken, den Sieg über Deutschland als Befreiung zu betrachten. Die bekannte Direktive JCS 1067 der US-amerikanischen Generalstabschefs an den Kommandeur der US-Streitkräfte in Deutschland und Militärgouverneur über die amerikanische Besatzungszone vom April 1945 begann ganz unsentimental mit den Worten: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“
Als man Churchill Fotos von zerbombten deutschen Städten zeigte, murmelte er nichts von „Befreiern“, sondern von „Barbaren“, womit er diesmal nicht die Krauts meinte.
Sogar Väterchen Stalin machte einen Unterschied und ließ, nachdem seine Truppen ihre Kirmes aus Siegesrausch und Vergeltungsdrang beendet hatten, die Losung ausgeben: „Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt.“ Doch wie Sir Winston ebenfalls und wahrscheinlich letztgültig feststellte, hat man diese Deutschen entweder an der Kehle, oder sie lecken einem die Stiefel.
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Vor einigen Monaten schrieb mir ein Leser zu diesem Thema Folgendes:
„Es ist eine Überspitzung, aber man nähert sich vielleicht einer Wahrheit, wenn man sagt, dass die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945 zu weiten Teilen damit befasst ist, die Diktate der Sieger von 1918 und 1945 historisch zu legitimieren. Das genaue Ausmaß an Verschleierung und Tendenziosität kann ich (wiewohl – oder weil? – gelernter Historiker) auf Grund der wesentlichen Einstimmigkeit der meisten anerkannten historiografischen Darstellungen nur erahnen, aber selbst eine bloße Ahnung kann einem den Atem rauben. Aber allemal kann man sich, zumindest für einen Augenblick, gleichsam mit Folgendem beruhigen:
Mit der Tendenz zu oftmals schlecht begründeter historischer ‚Selbst‘-Anklage – richtiger und genauer: zu schlecht begründeter Anklage, Diffamierung der eigenen Ahnen aus der Zeit vor bestimmten Stichdaten – stehen ‚wir‘, zweimalige Verlierer von Weltkriegen, nicht allein da, sondern reihen uns vielmehr ein unter die westlichen Siegermächte. (Die allerdings andere Stichdaten und -wörter haben als ‚wir‘. ‚Kultureller Selbsthass des Abendlands‘ ist ein von konservativen Autoren gelegentlich verwendeter ‚umbrella term‘, der das Gemeinte wohl umfasst, aber ebenfalls nicht präzise genug ist.)
Und die Sache hat auch, selbstverständlich, ihre Vernunft: Was den deutschen Fall betrifft, wird so nicht nur das Verhalten der Sieger legitimiert; die Pläne des darin webenden Geistes sind umfassender. Man suggeriert mit solcher historischer ‚Selbst‘-Anklage auch, wie viel besser man sei, nun man sich die Orientierungen der Sieger von einst zu Eigen gemacht hat; man arbeitet sich damit vor in Richtung auf das Recht, sich nun, nach glücklichem Vollzug des ‚Langen Wegs nach Westen‘ (Heinrich August Winkler), an ihre Seite zu stellen; damit insbesondere auf die Seite des seit Anfang der 1990er ganz ungehemmt triumphierenden Atlantismus.

Zuletzt verschmilzt der Sinn der deutschen ‚Selbst‘-Anklage mit dem der ‚Selbst‘-Anklagen der Freunde im Westen: Sie dienen nahezu unmittelbar der Stärkung des Glaubens, es sei, was als Neo-Imperialismus, als kalte Interessens- und Machtpolitik kapitalistischer Eliten erscheinen könnte, im Eigentlichen nichts als die Realisierung der endlich errungenen, wahrhaft universalen praktischen Wahrheit, der von aller schäbigen Affektion und Modifikation durch bloß partikulare Interessen endlich ganz und gar gereinigten Antwort auf die Frage ‚Was tun?‘ (Kant – und Lenin 1902!). Jener angeblich absoluten Wahrheit, m. a. W., die auch schon die Grundlage des Terreur der Jakobiner ausmachte.

Dabei setzt die ‚Selbst‘-Anklage zunächst darauf, als echte Selbstanklage aufgefasst zu werden: Wer die eigenen Ahnen so vernichtender Kritik aussetzt, rechnet heimlich auf Effekt gerade bei einem Publikum, bei dem noch Geltung hat, was etwa auch der Aufklärer Lessing noch seinen Nathan als sicheren gemeinsamen Untergrund aller, auch der fundamentalsten Kontroverse formulieren lässt (Nathan der Weise, „Ringparabel“, 3. Aufzug, 7. Auftritt, V. 1980–1986):
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Doch deren Blut wir sind? […]
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –

Sieh, meine Wahrheit ist so ernst, das gibt ein solcher ‚Selbst‘-Kritiker zu verstehen, dass in ihrem Angesicht selbst so ein altehrwürdiger Grundsatz in den Staub sinkt! Meine Gerechtigkeit ist erhaben über die Bande des Blutes! Gerade wem diese Bande viel bedeuten, dem muss die ‚Objektivität‘ und Prinzipientreue desjenigen, der sogar seine Ahnen verdammt, Ehrfurcht abnötigen. Ein Kollektiv, das zu solchem Urteil über sein eigenes früheres Tun fähig ist, von dem, so muss ein traditionalistisches Publikum zu denken verführt sein, werden die angeprangerten Untaten dann ja fürderhin nicht mehr zu erwarten sein.
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Selbstverständlich wird eine solche Reaktion in der Konfrontation mit dem realen (non-verbalen) Agieren des ‚Freien Westens‘ unweigerlich zu Enttäuschungen führen.
In Wahrheit ist aber die Erwartung, der ‚Freie Westen‘, der seine Vergangenheit doch in dermaßen kritischem Licht ausstellt, müsse aus den selbst eingestandenen Fehlern und Sünden gelernt haben, nicht einfach nur blauäugig, sondern greift v. a. am innersten Wesenskern der hinter den historischen ‚Selbst‘-Anklagen stehenden Ideologie vorbei: Ihrem tiefsten Sinn nach sind sie überhaupt keine reflexiven Urteile der Form ‚Wir haben damals das-und-das falsch gemacht‘, sondern bestehen in einem Rückzug aus dem angeklagten ‚Wir‘, ja letztlich in einer Problematisierung jedes ‚Wir‘ als solchem (Hervorhebung von mir – M.K.). Das Scheißen auf die eigenen Ahnen nährt einen Individualismus, durch den es schließlich überhaupt unmöglich wird, sich noch irgendeinem lebendigen, handlungsfähigem Kollektiv von einigem Gewicht zugehörig zu fühlen; einen Individualismus, der in der Konsequenz die Vernichtung nicht nur der durch ‚primordiale Bindungen‘ (Clifford Geertz) gestifteten Kollektive (Familie, Volk, die Religion, in die man „hineingeboren“ wurde) betreibt, sondern des Kollektiven überhaupt, als etwas das Individuelle wesensmäßig Übersteigendes; eine extreme revisionary metaphysics (Strawson), die einen Sturmangriff auf unser Kategoriensystem führt. Was dieser Sturmangriff übriglassen will, ist bestenfalls eine zum Abstraktum degenerierte Menschheit. Eine hohle Phrase, die alles und nichts besagt, deren Antonym ‚Unmensch‘ mithin leicht an jeden Beliebigen zu heften ist, der Anstalten zu irgendeiner Form von partikularistisch-kollektivistischem Widerstand macht.“
… Alles vom 6.5.2020 von Michael Klonovsky bitte lesen auf
https://michael-klonovsky.de/acta-diurna

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