Aus der von mir prognostizierten Rot-Rot-Grün-Koalition wurde nichts. Gleichwohl wird die nun anstehende Rot-Gelb-Grün-Koalition (Ampel) der neuen Legislaturperiode eine annähernd gleiche Polarisierung bringen: Auf Seiten der Regierung eine linksgrüne Ideologie, die über eine alles dominierende Klimapolitik die bürgerlichen Freiheiten wie auch die Marktwirtschaft (freies Unternehmertum und Wettbewerb) weiter beschränken wird.
Auf der anderen Seite eine Opposition, in der CDU und AfD kämpfen, um Nationalstaat und Demokratie zu erhalten. Jenseits des Gerangels von SPD, Grünen und FDP um den jeweiligen Machtanteil ihrer Partei innerhalb der Koalition wird diese Auseinandersetzung um die nationale Identität Deutschlands die nächsten vier Jahre bestimmen.
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Auch deshalb verweist Roger Köppel gerade jetzt in seinem hörenswerten WeltwocheDaily-Podcast vom 4.10.2021 https://www.youtube.com/watch?v=4jXDRL8SxLY eindringlich auf den großen Liberalen Sir Ralf Dahrendorf und sein Diktum vom Nationalstaat als einzigen funktionierendem Rahmen der Demokratie:
„Der heterogene Nationalstaat ist eine der großen Errungenschaften der Zivilisation. bisher zumindest ist kein anderer Rahmen gezimmert worden, in dem die Rechte aller Bürger verfaßt, also formuliert und garantiert werden können. Das nationalstaatliche Gewaltmonopol ist Voraussetzung der Geltung, also der Einklagbarkeit und Erzwingbarkeit von Bürgerrechten. Insofern ist der heterogene Nationalstaat Bedingung der Möglichkeit der gesicherten Freiheit und ein Gut, das Liberale verteidigen müssen.“
Es gibt weltweit keine Demokratie oberhalb der Nationalstaats.
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Deutschland steht ab 2022 eine spannende Legislaturperiode bevor, für die man durchaus optimistisch gestimmt sein darf – aus zwei Gründen.
(1) Nationalbewußtsein der EU-Mitgliedsländer ungebrochen
Weder Franzosen, Spanier, Griechen, Ungarn, Italiener, Polen oder Dänen sind gewillt, die eigene nationale Identität einem wie auch immer definierten EU-Nationalbewußtsein unterzuordnen. Sie werden die Intention der Ampel-Regierung, die nationale Souveränität als Region eines EU-Zentralstaates umzumünzen, strikt ablehnen.
Blackout erzieht
Spätestens beim nächsten Blackout, bei dem Lücken in der Grundlast nicht durch tschechischen oder französischen Atomstrom überbrückt werden können, wird die unsichere rot-grüne Energiepolitik am Ende sein. Wahrscheinlich werden dann die Grünen zur sensationellen Wende hin zu modernen kleinen Kernkraftwerken bereit sein.
(2) Mehrheit der Deutschen wählte Mitte-Rechts
CDU 151 und CSU 45 und FDP 92 und AfD 83 und SSW 1 kamen beider Bundestagswahl am 26.9.2021 auf 372 Sitze im Bundestag.
Demgegenüber verfügen SPD 206 und Grüne 118 und Linke 39 auf insgesamt nur 363 Sitze.
Damit haben im Deutschen Bundestag mit seinen 735 MdBs die politisch Mitte-Rechts orientierten Abgeordneten die Mehrheit – allesamt Parlamentarier, die für den Erhalt des deutschen Nationalstaates in einem eher dezentral organisierten Europa einstehen.
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Fazit: Eine linkslastige Ampel-Regierung wird Deutschland innerhalb der EU nicht in die erhoffte Rolle eines Vorbildes, sondern in die eines Aussenseiters bringen, dessen Größenwahn (Weltrettung) und Bevormundung (Nationale Frage) unsere EU-Nachbarn zunehmend verängstigen und unser Land in Brüssel isolieren wird.
4.10.2021
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Weltwoche Daily Deutschland, 04.10.2021
zu Dahrendorf „Die Zukunft des Nationalstaats“
https://www.youtube.com/watch?v=4jXDRL8SxLY
https://www.weltwoche-daily.ch/
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Warum EUropa?
Nachdenkliche Anmerkungen eines skeptischen Europäers
von Ralf Dahrendorf
Das schlimmste an der Europäischen Union ist die gähnende Langeweile, die die meisten ihrer Themen umhüllt.
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Und der Nationalstaat?
Die etwas ausführlich geratene Anmerkung zur britischen Europaskepsis dient nicht nur dem Verständnis europäischer Schwierigkeiten, sondern auch dem meiner eigenen Position. Zwar bin ich kein gebürtiger Brite, und auf meine Hamburger (und durch die Großeltern dänische) Herkunft kann ich mich schwerlich berufen. Aber seit langem schon gilt für mich, daß Europa eine Kopfgeburt, nicht eine Herzenssache ist. Ich träume nicht von einer europäischen Supermacht, die mit den USA und China und wem immer am Tisch sitzt und die Welt unter großen Blöcken aufteilt. Das ist übrigens im Kern ein nationalistischer Traum, der nur Europa an die Stelle des Nationalstaates setzt. Ich träume auch nicht von einem Europa, in dem die Pizza und das Labskaus, die Maß Bier und das Viertele Wein, und natürlich die Kondome und die Wasserhähne von Aberdeen bis Palermo dieselben sind.
Ich will dagegen ein Europa, in dem es leicht ist, von Aberdeen nach Palermo zu reisen, in dem das Diplom der Universität Aberdeen auch in Palermo anerkannt wird, in dem ich mühelos meine schottischen Pfunde in sizilianische Lire umtauschen kann, ein Europa der Konvertibilität. Konvertibilität ist immer eine Sache des Kopfes, Einheit dagegen (was immer sie im Fall Europas bedeutet) eine Sache des Herzens.
Wofür schlägt dann das Herz? Man erinnert sich an den Bundespräsidenten Heinemann, der gefragt wurde, ob er denn nicht sein Land − sein Vaterland vermutlich − liebe: »Ich liebe meine Frau, nicht mein Land.« Mit dem Herzen soll man vorsichtig sein, wenn es nicht um bestimmte andere Menschen, sondern um Abstraktes, einschließlich von Verfassungen geht. Immerhin gibt es drei solcher Abstraktionen, drei konstitutionelle Räume, für die ein besonderes Engagement begründbar ist: 1) die Bürgergesellschaft, 2) die Weltordnung (»Weltbürgergesellschaft«) und 3) den Nationalstaat.
1) Die Bürgergesellschaft ist das Lebenselixier der Freiheit. Sie ist die Welt der Assoziationen, die unter liberalen Bedingungen den Staat nur zur Garantie weniger Regeln brauchen (und unter illiberalen Bedingungen Quelle des Widerstandes werden), und in denen das tägliche Leben sich zwanglos abspielt. Europa hat stärker bürgergesellschaftlich (Britannien, Italien, die Schweiz) und stärker staatsgesellschaftlich (Deutschland, Frankreich) geprägte Länder. Es wäre ein Jammer, wenn es ganz in die Hände der Staatsgesellschaften fiele.
2) Die Weltordnung, so wird mancher einwenden, ist nun wirklich ein Traum, an dem gemessen die Europäische Union wie volle Realität erscheint. Insoweit es um die konkrete Ordnung, also ein sanktioniertes Regelwerk für die ganze Menschenwelt geht, hat der Einwand ohne Zweifel seine Berechtigung. Indes kann man das Thema auch wie Kant sehen − wie der Kant der Kleinen Schriften Zum ewigen Frieden und Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht − und also gerade nicht einer Utopie anhängen. Weltordnung ist dann ein Maßstab, an dem Realitäten gemessen werden. Menschen- und Bürgerrechte müssen als universell gedacht werden. Solange sie nicht universell sind, sind sie nirgends vollkommen. (Die ebenso offenbare wie nicht zu rechtfertigende Notwendigkeit, den Zuzug von Fremden zu rationieren, zeigt das nur allzu deutlich.) Heute gilt der Zwang zur Globalität auch für andere Regeln, zum Beispiel die der Finanzmärkte oder der Informationsgesellschaft. Er gilt offenkundig für die Schaffung und Erhaltung gewaltloser Beziehungen zwischen und immer häufiger auch innerhalb von Staaten.
Zu sagen, daß Weltordnung in diesem Sinne ein Maßstab ist, hat unmittelbare Folgen für die EU. In wichtigen Wirkungsbereichen ist die EU nur dann akzeptabel, wenn sie sich als nützlicher Schritt auf dem Weg zur Weltordnung versteht. Ist sie also ein grundsätzlich protektionistischer Block oder ein Beitrag zur Schaffung von weltweitem Freihandel? Dient sie dem Schutz ihrer Mitglieder oder setzt sie ein Beispiel für übernationale, grundsätzlich weltweit angelegte Kooperation? Ist sie Zwischenstufe oder Endvision? Zwischenstufen, wie Übergänge, können lange währen. Das entwertet sie nicht; es bestimmt jedoch ihr Selbstverständnis und damit ihr Verhalten nach außen wie auch nach innen. Ich gestehe, daß meine größte Sorge hinsichtlich der real existierenden EU darin liegt, daß sie von ihren Mitgliedern für Zwecke des Protektionismus im weitesten, nicht nur wirtschaftlichen Sinne des Wortes mißbraucht wird. Es ist ja so leicht, die EU die Drecksarbeit tun zu lassen, bei der man zu Hause nicht ertappt werden will.
Die Bürgergesellschaft als Lebenselixier, die Weltordnung als Maßstab − das sind zwei Ziele, für die zu streiten sich lohnt.
3) Bleibt der Nationalstaat, der oft schon totgesagte. Hier ist prinzipiell vom heterogenen Nationalstaat die Rede, der also Menschen unterschiedlicher Kultur, Religion, Rasse in gemeinsamer Staatsbürgerschaft verbindet. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das Modell. (Oder muß man schon sagen, sie waren es?) Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Spanien, Italien, Polen, Deutschland sind andere Beispiele, nicht alle gleich heterogen, manche alt und andere verspätet, aber alle real existierend und überdies Bausteine der Europäischen Union. Übrigens sind es sämtlich noch immer Gebilde, für die Menschen bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, also mehr als Kopfgeburten.
In diesen Anmerkungen geht es um Europa, genauer um EUropa, nicht um »die Zukunft des Nationalstaates« als solche (wozu ich mich im Merkur, Nr. 546/547, September/Oktober 1994 geäußert habe). Die These bleibt indes relevant, daß der Nationalstaat zwar nicht das Ende der Geschichte ist, aber doch eine beträchtliche Errungenschaft der Zivilisation, der politische Raum für Gefühle der Zugehörigkeit, der Rahmen individueller Rechte und die Aktionseinheit der internationalen Beziehungen. Er ist auch der Ort, in dem die institutionellen Voraussetzungen bestehen, um die großen Themen der Zeit anzupacken. Sehen wir uns noch einmal die Liste an, mit der diese Anmerkungen begannen:
Erstens: Arbeitslosigkeit. Keine politische Instanz kann die neue Arbeitslosigkeit bewältigen. Keynessche Rezepte wirkten wahrscheinlich nur einmal; Wirtschaften werden gegen sie immun wie Viren gegen bestimmte Medikamente. Aber was sich überhaupt tun läßt, von der Finanzierung der Arbeitslosen über die Regeln der Beschäftigung (»Flexibilität des Arbeitsmarktes«) bis zur Ermutigung von Arbeitgebern und der effektiven Einbeziehung von Arbeitnehmern liegt zumindest zum Teil in der Hand von nationalen Regierungen.
Zweitens: Wettbewerbsfähigkeit. Hier gilt dasselbe, wenngleich für die Öffnung von Märkten die EU eine wichtige Rolle spielt.
Drittens: Reform des Sozialstaates. Gerade an diesem entscheidenden Punkt zeigt sich, wie leichtfertig die Rede vom Ende des Nationalstaates ist. Sozialstaaten sind überall national geprägt. Jedes Land braucht seine eigenen Reformen. Jedes Land hat zum Beispiel seine eigenen heiligen Kühe, ob das Karenztage sind oder staatlich finanzierte Kindergärten oder Kuraufenthalte. Es mag ähnliche Erfordernisse und gemeinsame Grundsätze für die europäischen Länder geben, aber die konkreten Aufgaben und die Instrumente zu ihrer Bewältigung bleiben einstweilen national.
Viertens: Recht und Ordnung. Hier hat die innenpolitische »Säule« des Maastricht-Vertrages gewiß ihre Bedeutung. Sie ist aber aus gutem Grunde »zwischenstaatlich«. Noch die Praxis der Polizei unterscheidet sich fundamental in den europäischen Ländern, vom Zustand der Gefängnisse und den Eigenheiten der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Recht und Ordnung verlangen viel internationale Kooperation, aber nicht übernationale Zentralisierung.
Fünftens: Desillusionierung. Kann man sich ein Brüssel denken, das die deutsche Politikverdrossenheit beseitigt? Eines, das die italienischen Verwirrungen auflöst? Die Wahrheit ist, daß die europäischen Institutionen den Unwillen vieler Bürger über Parteien, Parlamente und Regierungen eher verstärkt haben. Wo die Antwort liegt, ist nicht sicher. Doch werden viele eher auf ihre Nationalstaaten als auf ferne Instanzen blicken.
Sechstens: Neue Bedrohungen. Hier klafft eine große und folgenschwere Lücke in unseren Ordnungen. Europäische Nationalstaaten sind zu klein, zu schwach, auch wohl zu wenig selbstbewußt, um Antworten zu geben. (Noch immer sind die USA der einzige Staat, der dazu in aller Welt bereit und in der Lage ist.) Europa aber ist weit davon entfernt, an die Stelle der alten Nationalstaaten zu treten.
Hier wird also nicht ein naives Loblied des Nationalstaates gesungen. Dessen Schwächen sind nur allzu deutlich. Doch bleibt der heterogene Nationalstaat das beste institutionelle Gefüge, das wir haben. Es lohnt sich, ihn zu verteidigen, und zwar nicht in erster Linie gegen die Auswanderung von Problemen in globalere Räume, sondern vor allem gegen die schlimme Tendenz zur Schaffung kleinerer, angeblich homogener Einheiten. Nicht Europa oder die Weltbank sind die Gefahr, sondern die Lega Nord und die schottischen Nationalisten. Um noch eine kontroverse Bemerkung in die Debatte zu werfen: Die schlimmste Aussicht ist das sogenannte Europa der Regionen, in dem homogene und daher intolerante subnationale Einheiten sich mit einem phrasenhaften und schwachen supranationalen Gebilde vereinen. Gegen diese Perspektive ist der heterogene Nationalstaat die einzige Bastion.
… Alles von Ralf Dahrendorf zu „Warum Europa?“ bitte lesen in Merkur Nr. 568, Juli 1996
https://www.merkur-zeitschrift.de/rald-dahrendorf-warum-europa/
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Dahrendorf: EU als EMU ( European Monetary Union) (1996)
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Es gibt keinen demokratischer Rechtsstaat, der kein Nationalstaat wäre
„Der Nationalstaat ist die größte Leistung politischen Organisationsvermögens, welches die bisherige Geschichte kennt, und zwar aus einem Grund: Es gibt nirgendwo einen Rechtsstaat, der kein Nationalstaat wäre. Rechtsstaat heißt vor allem: Gewaltenteilung. Einzig der Nationalstaat gewährleistet Rechtssicherheit. Umgekehrt sind keineswegs alle Nationalstaaten Rechtsstaaten, schauen Sie sich die Türkei an oder China. Die Verbindung aus Nationalstaat, Demokratie und Rechtsstaat ist so selten und ihre Entstehung so unwahrscheinlich, dass man sehr gute Alternativen haben muss, sie aufzugeben. Und so lange die Alternativen nur Luftschlösser sind, muss am Nationalstaat festgehalten werden, so viele Einwände man auch gegen ihn haben mag.“
… Alles von Michael Klonovsky zur Rede „Der deutsche Konservatismus muss freiheitlicher werden“ vom 17.4.2018 bitte hier lesen
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Dahrendorf: Deutschland muß sich als Nation wieder entdecken
„Quo vadis patria?“
Zeitgemäßer Patriotismus angesichts der europäischen Verfassungsdiskussion, in: Liberal. Erstes Quartal 2003, S. 45-47.
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Die unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft Europas, die sich zwischen den Polen eines „Vaterlands Europa“ und eines „Europa der Vaterländer“ bewegen und in London, Paris oder Berlin geäußert werden, machen eine Neubestimmung des Verhältnisses von Nation, Nationalstaat und „Europa“ in Deutschland notwendig.
Es wird, wie Ralf Dahrendorf bereits 1996 ganz richtig mahnte, im Interesse Europas bzw. der europäischen Nachbarstaaten der Bundesrepublik höchste Zeit, dass Deutschland sich als Nation – als heterogener Nationalstaat – wieder entdeckt. Wollen die Deutschen Europäer sein, wie ihre Nachbarvölker auch, so müssen sie zunächst sich selber, als Deutsche, anerkennen. Es gibt keinen Zugang zu Europa ohne die Vermittlung der Nation. Diese Einsicht, so schwer sie manchem aus historischen Gründen auch fallen mag, ist einer gebotenen Realitätspflicht geschuldet. Der Idee der europäischen Einheit korrespondiert nicht der Status des Einheitseuropäers – Europa lebt nur in und aufgrund der Vielheit seiner Völker.
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Heimat Nation
So ist mit der Frage nach einer nationalen Identität der Bundesrepublik Deutschland an der Schwelle des 21. Jahrhunderts auch diejenige nach einem zeitgemäßen deutschen Patriotismus verknüpft. Schon Dolf Sternberger, der große liberale Staatsdenker, wusste, dass es offensichtlich weder sinnvoll, notwendig, ja überhaupt möglich ist, eine zeitgemäße politische Identität ohne jegliche patriotische Gehalte auszubilden. Sternberger seinerseits warnte davor, den von ihm postulierten „Verfassungspatriotismus“ als Substitut eines nationalen Patriotismus misszuverstehen, denn: „Wir werden gewiss auch ein Element natürlicher Heimatlichkeit wieder einführen, das dort in dieser radikal rationalen Bestimmung gänzlich vermisst wird“. Heute kann und soll es, gerade vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus, keineswegs darum gehen, „Heimat“ als handlungsdominierende Kategorie des Politischen zu reaktivieren bzw. zu akzentuieren. „Heimat“, so hat es Sternberger kurz und bündig formuliert, „ist, wovon wir ausgehen. Mehr nicht, aber soviel ist sie gewiss“. Heimat als das Konkrete und Persönliche, das mit jedem Menschen neu geboren wird und stirbt, wird unkenntlich hinter Klischees und im Kitsch, in Phrasen politischer Propaganda. Sie verschwindet, ja zersetzt sich und entartet im politischen Missbrauch.
Wozu also überhaupt der Verweis auf die Heimat, von der Julien Green einst behauptete, „die einzige wahre Heimat“ sei der Bauch der Mutter – „unserer Mutter aus Fleisch und Blut“? Der Verweis auf die Heimat als ein Urphänomen des menschlichen Lebens vermag im Zeichen von Globalisierungs- und Universalisierungstendenzen schlicht einer Rückbesinnung auf den Umstand dienen, dass der Mensch nur ausgehend von überschaubaren, erlebbaren Räumen, sei es der Familie, der Heimat bzw. der Region, auch die größeren Gebilde des sozialen Zusammenlebens letztlich begreifen kann. Von hier aus wird verständlich, wenn Dahrendorf in Übereinstimmung mit Sternberger feststellt, Patriotismus sei Voraussetzung des Weltbürgertums.
Um einem Irrtum vorzubeugen: Es geht bei der Frage nach Nation, nationaler Identität, Patriotismus und Heimat keineswegs um eine rekonstruierte Blut-und-Boden-Mystik des Politischen. Im Gegenteil. Es geht um eine realistische, historisch aufgeklärte Relationierung von Gemeinschaft und Menschlichkeit im politischkulturellen Koordinatensystem der Gegenwart. Es geht um die Frage nach „Humanität“ im Spannungsverhältnis von „Weltbürgertum und Nationalstaat“, von Universalismus und Partikularismus, von Kosmopolitismus und Patriotismus an der Schwelle des 21. Jahrhunderts.
Wenn Egon Bahr heute mit Blick auf Deutschland feststellt, der gemeinsame Staat ohne territoriale Ansprüche, in dem die Nation ihr Haus gefunden hat, sei das überschaubare, durch Sprache und Gewohnheit vertraute Gebilde, Ereignis der Geschichte, die sich aus Siegen und Niederlagen, strahlenden Leistungen und beschämender Schuld zusammensetze, dann sieht er dieses Gebilde keineswegs im Gegensatz zu dem Gedanken der europäischen Integration. Wer die nationale Identität Deutschlands leugne, so Bahr, der werde durch unsere Nachbarn auf die Nation zurückgeworfen. Schließlich hegten unsere Nachbarn weder Neigung noch Absicht zu einer europäischen Nation. Mit der Aussicht auf eine Erweiterung der Europäischen Union erst recht nicht.
Polen, Tschechen und Ungarn denken Bahr zufolge daran ebenso wenig wie Franzosen, Engländer, Italiener oder Spanier. Sie alle fühlen sich ihrer Identität sicher und vertreten ihre nationalen Interessen weiterhin. Warum nicht auch die Deutschen? György Konrád hat Recht, wenn er betont, dass die Tatsache, sich im Namen der eigenen Nation zu deren legitimen Interessen zu bekennen, keineswegs dazu zwinge, die in ihrem Namen begangenen Verbrechen zu billigen. Patriotismus ist nicht mit Auschwitz obsolet geworden.
… Alles zu „quo vadis patria?“ von 2003 bitte lesen auf
https://www.politik-soziologie.uni-bonn.de/de/personal/prof.-dr.-volker-kronenberg/downloads/quo-vadis-patria