Agamben: Kontrollgesellschaft

Der in Italien eingeführte „Grüne Paß“ sieht für die 23 Mio Beschäftigten die 3G-Regel (Impfung, Genesung oder negativer Test) vor, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. Die Kontrollpflicht liegt beim Arbeitgeber. Gegen diese Einschränkung der Freiheits– bzw. Grundrechte gibt es massive Proteste. In einer an den Senat in Rom gerichteten Rede stellt der italienische Philosoph Giorgio Agamben am 7.10.2021 die entscheidende Frage – nämlich die nach der Verantwortung des einzelnen Bürgers und der Verantwortung des Staates:
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„È possibile immaginare una situazione giuridicamente e moralmente più abnorme? Come può lo stato accusare di irresponsabilità chi decide di non vaccinarsi, quando lo stesso Stato che per primo declina formalmente ogni responsabilità in merito alle possibili gravi conseguenze del vaccino?“
„Ist es möglich, frage ich, sich eine rechtlich und moralisch anormalere Situation vorzustellen? Wie kann der Staat diejenigen, die sich entscheiden, sich nicht impfen zu lassen, der Verantwortungslosigkeit bezichtigen, wenn derselbe Staat formell jegliche Verantwortung für mögliche schwerwiegende Folgen ablehnt?“
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Die »Aussonderung« der Ungeimpften ergebe keinen Sinn, heißt es in einem Manifest. Der Grüne Pass schütze nicht vor Ansteckung:
https://www.secoloditalia.it/2021/08/green-pass-la-rabbia-dei-professori-obbligati-a-vaccinarsi-con-la-minaccia-di-perdere-il-lavoro/
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Giorgio Agamben (79) gilt in Italien als der größte Philosoph der Gegenwart und wird vor allem auch von der Jugend geachtet, und zwar unabhängig von der jeweiligen politischen Richtung. Seine Warnung, mit der Erhebung der Gesundheit zum höchsten Wert wandle sich die demokratische ‚Disziplingesellschaft’ zu einer totalitären ‚Kontrollgesellschaft‘, wird in Italien gehört – anders als in Deutschland.
Lesen Sie dazu unten das Transscript seiner vielbeachteten Rede vom 7.10.2021 vor dem Senat in Rom auf deutsch und italienisch.
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Das Problem des übergriffigen Staates und der verängstigten Bürger, die ihre Freiheiten schwinden sehen, stellt sich in Deutschland genauso wie in Italien gleichermaßen – nur mit dem Unterschied, daß es in Italien im demokratischen Streit und Diskurs offen ausgetragen wird, während man bei uns eher zu Verschweigen und Verbiegen neigt:

(1) Deutsche Mainstream-Medien stellen die Protestierenden wie gewohnt in die rechte Ecke. „Rechtsradikale Proteste führen in Rom zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ meldet hämisch die Tagesschau – eine billige Desinformation. Das Gefährliche an den Ausschreitungen ist doch gerade, daß hier keine Nazis, sondern Italiener aller politischen Richtungen protestieren – da laufen KPI neben Cinque Stelle neben Forza Italia neben dem politisch nicht festgelegten Gemüsehändler Seit an Seit. In den Hafenstädten wie Trieste und Genova sind es zudem primär Gastarbeiter, denen als Ungeimpfte die Arbeitslosigkeit droht.

(2) Deutsche Eliten schweigen zum de fakto-Abbau der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wir haben in D eben leider keinen wachen und mutigen Philosophen Giorgio Agamben, allenfalls einen zunehmend senilen Jürgen Habermas und einen Heribert Prantl, der sich im Alter nun plötzlich über das Schwinden von bürgerlichen Grundrechten echauffiert, das er als SZ-Redakteur jahrelang (Migration, EU-Haftung) schweigend hingenommen hat.

(3) Der deutsche Untertan hält weiterhin gehorsamst still, wenigstens solange sein Transfereinkommen noch allmonatlich überwiesen wird und die Sicherheit in den gehobenen Wohnvierteln noch gewährleistet ist.

Wie lange wird die aus (1) – (3) gezimmerte Scheinwelt noch bestehen bleiben? Wie lange noch blicken wir so voller Arroganz und Häme auf Italien?
15.10.2021

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Giorgio Agamben: Rede am 7.10.2021 im Senat in Rom
„Ich möchte mich nur auf zwei Punkte konzentrieren, die ich den Abgeordneten zur Kenntnis bringen möchte, die sich zur Umwandlung der Verordnung über den grünen Paß in ein Gesetz äußern müssen.
1. Der erste ist die offensichtliche Widersprüchlichkeit des betreffenden Dekrets. Sie wissen, daß die Regierung sich mit einem speziellen Dekret von jeglicher Haftung für durch den Impfstoff verursachte Schäden befreit hat. Und die Schwere dieser Schäden ergibt sich aus der Tatsache, daß in Artikel 3 des Dekrets ausdrücklich die Artikel 589 und 590 des Strafgesetzbuches erwähnt werden, die sich auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Verletzungen beziehen.
Wie maßgebliche Juristen festgestellt haben, bedeutet dies, daß der Staat nicht bereit ist, die Verantwortung für einen Impfstoff zu übernehmen, der seine Testphase noch nicht abgeschlossen hat. Gleichzeitig versucht er mit allen Mitteln, die Bürger zur Impfung zu zwingen, indem er sie andernfalls aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließt und nun mit dem neuen Dekret, das Sie bestätigen sollen, ihnen sogar die Arbeitsmöglichkeit nehmen will.
Ist es möglich, frage ich, sich eine rechtlich und moralisch anormalere Situation vorzustellen? Wie kann der Staat diejenigen, die sich entscheiden, sich nicht impfen zu lassen, der Verantwortungslosigkeit bezichtigen, wenn derselbe Staat formell jegliche Verantwortung für mögliche schwerwiegende Folgen ablehnt?
Ich möchte, daß die Abgeordneten über diese Widersprüchlichkeit nachdenken, die meiner Meinung nach eine juristische Ungeheuerlichkeit darstellt.

2. Der zweite Punkt, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, betrifft nicht das medizinische Problem des Impfstoffs, sondern das politische Problem des Gesundheitspasses, das nicht mit dem ersten zu verwechseln ist. Wissenschaftler und Ärzte haben gesagt, daß der Gesundheitspaß an sich keine medizinische Bedeutung hat, sondern dazu dient, Menschen zur Impfung zu zwingen.
Ich glaube eher das Gegenteil: Das heißt, der Impfstoff ist ein Mittel, um die Menschen zu einem Gesundheitspaß zu zwingen, nämlich zu einem Instrument der Kontrolle und Verfolgung sämtlicher Bewegungen der Personen – eine bisher beispiellose Maßnahme. Politikologen wissen seit langem, daß sich unsere Gesellschaften vom früheren Modell der ‚Disziplingesellschaft’ zu einer ‚Kontrollgesellschaft’ entwickelt haben; mit einer nahezu unbegrenzten digitalen Kontrolle einzelner Verhaltensweisen, die auf diese Weise quantifizierbar werden.

Wir sind dabei, uns an diese Kontrollinstrumente zu gewöhnen, aber ich frage Sie: Bis zu welchem Punkt können wir diese Kontrolle akzeptieren? Ist es möglich, daß die Bürger einer vermeintlich demokratischen Gesellschaft in einer schlechteren Lage sind als die Bürger der Sowjetunion unter Stalin? Sie wissen vielleicht, daß die Sowjetbürger gezwungen waren, einen Passierschein für jede Reise von einem Ort zum anderen vorzulegen. Wir hingegen müssen den Paß zeigen, um ins Restaurant, ins Museum oder ins Kino zu gehen. Und jetzt sollen wir ihn sogar zeigen, um arbeiten zu gehen!
Wie kann man akzeptieren, daß, zum ersten Mal in der Geschichte Italiens nach den faschistischen Gesetzen von 1938 für Nicht-Arier, jetzt Bürger zweiter Klasse geschaffen werden, die aus rein rechtlicher Sicht den gleichen Beschränkungen unterliegen wie einst die Nicht-Arier?

Alles deutet darauf hin, daß die aufeinander folgenden Dekrete in einen Prozeß der Transformation von Institutionen und Paradigmen der Regierung eingeschrieben werden sollen. Eine Umwandlung, die umso heimtückischer ist, als sie, wie im Faschismus, ohne Änderungen des Verfassungstextes stattfindet, also heimlich. So wird das Modell der parlamentarischen Demokratien mit ihren Rechten, ihren verfassungsmäßigen Garantien, ausgehöhlt und ausgelöscht. An ihre Stelle tritt ein Regierungsparadigma, das im Namen von Biosicherheit und Kontrolle die individuellen Freiheiten zunehmend einschränkt.

Die ausschließliche Fokussierung auf Infektion und Gesundheit scheint mir zu verhindern, daß wir die Bedeutung dieses großen Wandels der politischen Sphäre wahrnehmen und erkennen, daß Sicherheit und Notfall keine vorübergehenden Phänomene sind, sondern die neue Form der Regierbarkeit darstellen. Ich glaube, daß es unter diesem Gesichtspunkt für die Parlamentarier dringender denn je ist, sich mit dem laufenden politischen Wandel auseinanderzusetzen, der übrigens auf lange Sicht dazu bestimmt ist, daß das Parlament seine Befugnisse verliert und sich darauf beschränkt, im Namen der Biosicherheit Dekrete zu verabschieden, die von Organisationen und Personen stammen, die mit dem Parlament nur wenig zu tun haben.”
Giorgio Agamben, 7.10.2021 im Senat in Rom
Hier das Original auf Italienisch:
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Discorso di Agamben al Senato: “Green pass peggio dell’Unione Sovietica sotto Stalin”
Pubblichiamo la trascrizione integrale del discorso pronunciato oggi da Giorgio Agamben sul green pass di fronte alla Commissione Affari Costituzionali del Senato.
Vorrei soffermarmi solo su due questioni da portare all’attenzione dei parlamentari che dovranno votare la conversione in legge del decreto legge sul green pass.

1. Il primo è l’evidente contraddittorietà del decreto in questione. Voi sapete che il governo grazie ad un decreto è esentato da ogni responsabilità per i danni prodotti dal vaccino. E quanto gravi possano essere questi danni risulta dal fatto che l’articolo 3 dello stesso decreto menziona esplicitamente gli articoli 589 e 590 del codice penale, che si riferiscono all’omicidio colposo e alle lesioni colpose.
Come autorevoli giuristi hanno notato, questi significa che lo Stato non si sente di assumersi la responsabilità su un vaccino che non ha terminato la sua fase di sperimentazione. E tuttavia allo stesso tempo cerca di costringere con ogni mezzo i cittadini a vaccinarsi, escludendoli altrimenti dalla vita sociale e ora, col decreto che state votando, privandoli persino della possibilità di lavorare.
È possibile immaginare una situazione giuridicamente e moralmente più abnorme? Come può lo stato accusare di irresponsabilità chi decide di non vaccinarsi, quando lo stesso Stato che per primo declina formalmente ogni responsabilità in merito alle possibili gravi conseguenze del vaccino?
Vorrei che i parlamentari rispondessero a questa contraddizione, che a mio avviso configura una mostruosità giuridica.

2. Il secondo punto sul quale vorrei attirare la vostra attenzione non riguarda il problema medico del vaccino, ma quello politico del green pass. È stato detto da scienziati e da medici che il green pass non ha in sé alcun significato medico ma serve ad obbligare la gente a vaccinarsi. Invece io penso si debba dire il contrario: ovvero che il vaccino sia un mezzo per costringere la gente ad avere il green pass. cioè uno dispositivo che permette di controllare e tracciare gli individui, misura che non ha precedenti.
I politologi sanno da tempo che le nostre società sono passate dal modello “di disciplina” a quello delle società “di controllo”, fondate sul controllo digitale, virtualmente illimitato, dei comportamenti individuali. Ormai diventati quantificabili. Ci stiamo abituando a questi dispositivi di controllo. Ma, vi chiedo, fino a che punto siamo disposti ad accettare che questo controllo si spinga?
È possibile che i cittadini di una società che si pretende democratica si trovino in una condizione peggiore dei cittadini dell’Unione Sovietica sotto Stalin? Voi sapete che i cittadini sovietici erano costretti a mostrare un lasciapassare per ogni spostamento da un Paese all’altro. Noi invece siamo costretti a mostrarlo anche per andare al ristorante, al museo, al cinema e ora anche per andare a lavorare.
Come è possibile accettare che per la prima volta nella storia d’Italia dopo le leggi fasciste del 1938 sui non ariani si creino dei cittadini di seconda classe che subiscono restrizioni che – sul piano strettamente giuridico – sono identiche a quelle subite dai non ariani?
Tutto fa pensare che i decreti legge che si susseguono uno dietro l’altro vadano inquadrati in un processo di trasformazione delle istituzioni e dei paradigmi di governo. Trasformazione che è tanto più insidiosa perché, come per il fascismo, avvengono senza il cambiamento del testo della Costituzione, ma surrettiziamente. Il modello che viene così eroso e cancellato è quello delle democrazie parlamentari con i loro diritti e le loro garanzie costituzionali. Al loro posto subentra un paradigma di governo in cui, in nome della bio-sicurezza e del controllo, le libertà individuali sono destinate a subire limitazioni crescenti.
La concentrazione esclusiva dell’attenzione sui contagi e sulla salute mi pare impedisca di percepire quale sia il significato di questa grande trasformazione della sfera politica e impedisca anche di rendersi conto che la sicurezza e l’emergenza non sono fenomeni transitori, ma costituiscono la nuova forma di governabilità. Credo che in questa prospettiva sia più che mai urgente che i parlamentari considerino la trasformazione politica in corso che alla lunga del resto è destinata svuotare il Parlamento dei suoi poteri, riducendolo ad approvare semplicemente – in nome della bio-sicurezza – decreti che emanano da organizzazioni e persone che col Parlamento hanno ben poco a che fare.
… Alles vom 7.10.2021 bitte lesen auf
https://infosannio.com/2021/10/07/discorso-di-agamben-al-senato-green-pass-peggio-dellunione-sovietica-sotto-stalin/

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Giorgio Agamben, intervento sul green pass alla Commissione Affari Costituzionali del Senato, 7 ottobre 2021:
https://youtu.be/T2Pei9gMxCQ

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Wenn das nackte Leben plötzlich zum höchsten Wert wird:
Giorgio Agambens Reflexionen zur Corona-Zeit
Gesundheit sticht Freiheit, der Ausnahmezustand wird zum Normalfall, und das unmaskierte Antlitz wird zu einer Erinnerung aus einer fernen Zeit. Der italienische Denker Giorgio Agamben liefert Philosophie in Aktion – und blickt voller Sorge auf unsere demokratische Gegenwart.
Am Ende des ersten Jahres unter den Ausnahmebedingungen der Pandemie haben unsere Hoffnungen auf ihr Ende alle Konturen verloren. Noch im vergangenen Sommer schien die Aufhebung der mit Covid-19 begründeten Restriktionen nur eine impfstoffabhängige Frage von wenigen Monaten zu sein. Mittlerweile jedoch rechnen wir ohne konkretes Datum mit der Entstehung eines grundsätzlich veränderten, aber hinsichtlich seiner Formen kaum absehbaren Alltags. Die eben in deutscher Übersetzung publizierten Reflexionen und Interviews von Giorgio Agamben über die Corona-Situation belegen, dass sich die heute vorherrschende Einstellung zu Beginn der Krise erstaunlich präzise vorwegnehmen liess.
… Alles vm 4.2.2021 bitte lesen auf
https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-corona-und-das-leben-im-ausnahmezustand-ld.1599539
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Giorgio Agamben:
An welchem Punkt stehen wir? – Die Epidemie als Politik
ISBN 9783851329964
Verlag Turia- Kant. Wien 2021, 16 €

 

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